Sich auszumalen, wie das eigene Leben auch hätte verlaufen können. Diese Gedankenspielerei liegt vielen literarischen Werken zugrunde. Der jüdisch-israelische Schriftsteller Eshkol Nevo erhebt dieses «was wäre wenn» in seinen Werken zum Prinzip. Auch in seinem neuen Roman «Neuland». Das Spiel mit den Möglichkeiten treibt alle Figuren um.
Porträt der modernen israelischen Gesellschaft
Zum Beispiel Dori, einen Mittvierziger. Der Historiker hätte eine glänzende Hochschulkarriere vor sich gehabt. Er entschied sich jedoch dagegen, weil er hofft, als Lehrer die Gesellschaft zu verändern zu können.
Oder Inbar, die sich im Feld der Möglichkeiten gefangen sieht: Freund verlassen, oder in der Beziehung resignieren? Job behalten, oder dem Mut zum Schriftstellerdasein aufbringen? Autor Nevo macht es seinen Figuren nicht leicht.
Lili, die dritte Hauptfigur, ist Inbars Grossmutter. Sie kam als glühende Zionistin aus Polen nach Palästina. Kurz darauf versank Europa in der Shoah, dem Holocaust. Was, wenn sie in Polen geblieben wäre?
Nevo erforscht seelische Wunden
Im Laufe des Buchs suchen Nevos Figuren nach ihrer Identität und ringen um die Möglichkeit, den vorgezeichneten Weg zu verlassen, um einen Neubeginn zu wagen.
Der 42-jährige Autor zeichnet in seinen Büchern ein präzises Bild der modernen israelischen Gesellschaft. In seinem ersten Roman «Vier Häuser und eine Sehnsucht» beobachtete ein Araber das Haus seiner Familie, das enteignet wurde. Im zweiten Roman, «Wir haben noch das ganze Leben», untersuchten Freunde, was aus ihren Wünschen geworden ist. Nevo setzt seine Geschichten immer in einen Zusammenhang mit den Kriegen in Israel. Seine Israelis sind allesamt Verwundete. Ihn interessieren ihre Narben. Die Vernarbungen ihrer Seelen.
Peru als Zufluchtsort
Sendung zum Thema
In «Neuland» ist es der zweite Libanonkrieg von 2006, der atmosphärisch den Roman prägt. Dori, der Historiker, ist nach Südamerika aufgebrochen, um seinen Vater zu suchen. Dieser hat nach dem Tod seiner Frau jeglichen Halt verloren. In Peru trifft Dori auf Inbar, welche den Suizid ihres Bruders in der israelischen Armee nicht verwinden kann.
Geschickt verflicht Nevo die Traumata der Israeli miteinander. Dass er den Schauplatz Südamerika wählt, ist kein Zufall: Viele Israelis nehmen sich nach dem Militärdienst in Südamerika eine Auszeit. Nur fern der Heimat Israel sind sie offenbar in der Lage, ihr eigenes Ich zu hinterfragen.
Der wandernde Jude kommt im 21. Jahrhundert an
So israelisch «Neuland» ist, es ist auch ein zutiefst jüdischer Roman. Die europaweite Vertreibung der Juden durch den Lauf der Geschichte kondensiert der Autor in der Figur von Lili, Inbars Grossmutter. Vertriebene, Getriebene sind diese Figuren. Dori, Inbar, der Vater, die Grossmutter: Sie alle sind auf Wanderschaft.
Damit rührt Nevo an die mythologische Gestalt des Ewigen Juden, der auch der wandernde Jude genannt wird. Nevo erhebt den wandernden Juden zum Leitmotiv des Romans. Dass er ihn tatsächlich ins 21. Jahrhundert führt ist nur eine der Spielereien in diesem vielschichtigen Roman. Sie suchen eine neue Heimat. Das erklärt den Titel. «Neuland» spielt auch auf «Altneuland» an, einem Werk des Zionisten und jüdischen Vordenkers Theodor Herzl. Dieser hat einen Ort für einen Judenstaat gesucht – auch in Südamerika.
Ein phantastischer Erzähler
Zufälle und Schicksale verweben sich leicht in Nevos Roman. Das mag manchmal etwas konstruiert erscheinen. Diese Konzepthaftigkeit verrät, dass der Autor an Israels Universitäten kreatives Schreiben lehrt. Doch Eshkol Nevo ist ein phantastischer Erzähler: Mit einer bildhaften Sprache stülpt er das Innenleben seiner Figuren nach aussen und entwickelt seine Geschichte weiter aus wechselnden Perspektiven.
Letztlich geht es Eshkol Nevo in «Neuland» darum, seine Figuren an den «Point of no Return» zu führen, an dem sie den Mut aufbringen, aus dem Bestehenden auszubrechen und sich im Leben eine neue Chance zu geben.