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Porträt von Szczepan Twardoch
Legende: Szczepan Twardoch schafft es mit seinem Roman «Morphin» von Lesern und Kritikern gleichermassen bejubelt zu werden. Magda Kryjak

Literatur Ein Roman wie ein Rausch – Szczepan Twardochs «Morphin»

In Polen ist der Schriftsteller Szczepan Twardoch ein Star, sein Roman «Morphin» ein Bestseller. Warum? Weil er alle Ingredienzien versammelt, die eine spannende Geschichte braucht: eine schöne Ehefrau, eine Geliebte, eine Spionage-Geschichte – und einen Held, der schwer fassbar bleibt.

«Morphin» spielt im Oktober 1939 in Warschau. Die Hauptfigur Konstanty Willemann ist Leutnant bei der polnischen Kavallerie, doch vor wenigen Wochen haben die Deutschen Warschau eingenommen und dort das Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Geblieben von all dem Luxus, in dem Konstanty bis dahin schwelgte, sind: der Alkohol, die Drogen, die Frauen – von all dem dafür reichlich.

Die Liebesgeschichten

Da ist zum einen seine Mutter, zu der Konstanty eine fast ödipale Beziehung hat. Dann seine liebevolle und unschuldige Frau Helena. Die Geliebte Salomé, eine Prostituierte, zu der er sich immer wieder flüchtet, um im Morphium- und Alkohol-Rausch dem Alltag zu entfliehen. Und Dzidzia, in die sich Konstanty im Laufe des Romans verlieben wird und die ihm einen Weg aus seiner Unmündigkeit zeigen will.

Der zerrissene Charakter

Szczepan Twardoch

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2012 gelang dem 1979 in Polen geborenen Autor mit «Morphin» der Durchbruch. Der Roman wurde u. a. mit dem renommierten Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet. Szczepan Twardoch lebt in Pilchowice/Schlesien.

Neben seinen Frauengeschichten geht es nämlich in Szczepan Twardochs Roman um Konstantys Suche nach dem eigenen Ich, um die Frage: Wo komme ich her und wer bin ich? Dabei steht sich Konstanty vor allem selbst im Weg. Er ist eine gescheiterte Existenz, haltlos, getrieben und ohne Sinn für sich selbst: identitätslos, orientierungslos, hin- und hergerissen zwischen zwei Identitäten, zwischen der ehemals schlesischen, aber inzwischen polnischen Mutter und dem preussischen Vater, zwischen Wahrheit und Selbstbetrug, zwischen Selbstüberschätzung und Selbstverachtung. Kurz: Konstanty ist ein Mann ohne Eigenschaften, ein Taugenichts, ein verkrachter Künstler.

Die richtige Prise Spannung

Das Buch «Morphin» ist aber mehr als ein historischer Roman oder die Ich-Suche des Protagonisten. Es ist auch eine Spionage-Geschichte mit dem Spiel nationaler Identitäten. Als sich Konstanty nämlich vom polnischen Widerstand rekrutieren lässt, gerät sein Leben komplett ausser Kontrolle: Zusammen mit Dzidzia fährt er in der deutschen Uniform seines Vaters nach Budapest, um von dort geheime Informationen für den polnischen Widerstand nach Warschau zu bringen.

Die verschachtelte Erzählweise

Szczepan Twardoch liebt das Unkonventionelle – nicht nur thematisch, sondern auch formal. Es gibt (gleichzeitig und nebeneinander) zwei Ich-Erzähler, die hin- und herwechseln. Das führt beim Lesen dazu, dass man immer wieder überprüfen muss, ob es Konstanty Willemann ist, der da gerade spricht, oder die andere Stimme: Eine innere weibliche Stimme, die Konstanty auf Schritt und Tritt begleitet und deren Herkunft etwas Übersinnliches hat. Eine Stimme, die Vergangenheit und Zukunft kennt, allwissend ist und die punktuell zeigt, dass kaum eine der Figuren den Krieg in den kommenden Jahren überleben wird.

Buchhinweis

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Szczepan Twardoch: «Morphin». Rowohlt, 2014.

Zurecht ein neuer Stern am Literaturhimmel

Sprachlich arbeitet Twardoch mit den Mitteln der Zeit, in der der Roman angesiedelt ist. Er malt seine Szenerie «mit dickem Pinselstrich» wie ein expressionistisches Gemälde, bleibt im Detail aber so präzise, dass man sich beim Lesen in jene Zeit zurückversetzt fühlt.

Kein Wunder also, hat ihn das Feuilleton mit Autoren wie Alfred Döblin, Witold Gombrowicz, James Joyce oder Jonathan Littell verglichen. Aber weil Twardoch den Rausch nicht nur thematisch aufgreift, sondern auch stilistisch und formal abbildet, weil er so experimentierfreudig, ausschweifend und sinnlich vorgeht, ist Twardoch in Polen zu Recht der neue Stern am Literaturhimmel.

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