Gekannt hat Konstantin Boggosch seinen Vater nicht – trotzdem treibt dieser ihn ein Leben lang um. Denn sein Vater war SS-Offizier. Genauer: ein gehenkter Kriegsverbrecher, ein Gummi-Fabrikant, der in seiner kleinen ostdeutschen Stadt ein KZ errichten und Gefangene für sich arbeiten lassen wollte. Christoph Hein schreibt: «Mein Bruder und ich hörten nur Andeutungen über das Tun und Lassen unseres Vaters, keiner in der Stadt sprach direkt von ihm. Dieser unbekannte Vater wuchs sich zu einem Phantom aus, das uns beide ängstigte.»
Wenige Tage nach Kriegsende im Mai 1945 kommt Konstantin zur Welt, seine Mutter nennt ihn «Glückskind». Denn sie weiss: Wäre sie während der ersten Wochen der sowjetischen Besatzung nicht hochschwanger gewesen, sie wäre als Ehefrau eines Kriegsverbrechers wohl irgendwo hinter dem Ural verschwunden. Sie, die nicht wusste, welche Untaten ihr Ehemann begangen hatte, schämt sich für ihn und büsst ein Leben lang. Als ausgebildete Lehrerin für Fremdsprachen findet sie in der DDR keine Stelle mehr und putzt statt dessen die Wohnungen anderer Leute. Sie zerbricht an ihrem Schicksal und stirbt mit nur 54 Jahren «am Herzversagen der anderen».
Sippenhaft auch in der DDR
Anders als seine Mutter rappelt Konstantin sich immer wieder auf: Mit 14 Jahren büxt er aus, will nach Marseille in die Fremdenlegion und landet schliesslich bei einem Antiquar und dessen drei Freunden. Ein Glücksfall, denn diese vier Männer geben ihm Arbeit und Geborgenheit. Alles ist gut, doch plötzlich holt ihn der lange Schatten des Vaters auch in Marseille ein. Er kehrt nach Deutschland zurück – ausgerechnet am 13. August 1961, am Tag des Mauerbaus.
In der DDR bleiben ihm viele Türen verschlossen. Aus zwei Gründen: Weil er in den Westen abgehauen ist und weil sein Vater ein Nazi-Verbrecher war. Sippenhaft also auch in der DDR. Konstantin darf weder Leistungssportler werden noch an der Filmhochschule in Babelsberg studieren. Schliesslich wird er Lehrer und später für kurze Zeit sogar Schuldirektor. Doch seine Akte bringt ihn zu Fall. Nach der Wende von 1989 heisst es, wer in der DDR Schulleiter gewesen sei, sei nach der Wende nicht mehr tragbar.
Das Leben, ein literarischer Steinbruch
Christoph Hein ist Zeitzeuge und Chronist der deutschen Geschichte und gehörte im Herbst 1989 neben Christa Wolf zu den wichtigsten Stimmen unter den Schriftstellern. Sein literarischer Steinbruch ist das eigene Leben, Fühlen und Beobachten: Er beschreibt beispielsweise das private Leid seines Helden, der als junger Mann völlig unerwartet Frau und Kind verliert. Die beiden sterben, kaum ist die Tochter auf der Welt. Hein dokumentiert auch dieses Trauma nüchtern und macht mit einfachen Worten fassbar, warum die Trauer nicht weniger wird.
Sein Erzählton ist berichtend und protokollierend, sein Urmotiv das Trauma. Im Zentrum seiner Bücher stehen brüchige Existenzen. In «Glückskind mit Vater», seinem elften Roman, lässt Hein mit Konstantin Boggosch einen Ich-Erzähler zu Wort kommen, der auf sein Leben zurückschaut und so einen grossen historischen Bogen schlägt vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Und zur Einsicht kommt: Ein Schlussstrich nach 1945 ist nicht möglich.