«Unterstell mir nichts, sagt Theo zu seiner Tochter Frieda, ich weiss doch, was war. Aber in Wahrheit konnte er sich keiner seiner Erinnerungen sicher sein.» Das ist schlimm, denn als junge Frau nimmt Frieda ihn mit dem selbstgerechten Furor einer studentenbewegten Nachgeborenen ins Kreuzverhör und konfrontiert ihn misstrauisch mit Fakten. Ein Leben lang quält sie ihn und sich mit der Frage, was er während seiner sechs Kriegsjahre an der Ostfront gemacht hat.
Hausverbot für die Tochter
Doch die beiden trennt noch mehr. Als Frieda zwölf Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter an Krebs. Der Vater heiratet kurze Zeit später wieder und ist zum ersten Mal in seinem Leben richtig glücklich. Berta heisst die neue Frau, doch Frieda kommt mit der Stiefmutter nicht klar. Die beiden werden sich spinnefeind, schliesslich stellt Berta ihren Mann vor ein Ultimatum: Frieda oder sie.
Weil Theo Konflikte scheut und vor allem seine Ruhe haben will, ist seine Entscheidung schnell klar: Er stellt seine Tochter mit 18 vor die Tür. Später bekommt Frieda sogar Hausverbot, und der Kontakt bricht ganz ab. Was bleibt, ist die Sehnsucht nacheinander und eine Liebe, die hartnäckiger ist als der Verrat.
Aus verschiedenen Perspektiven
In Rückblenden und aus zwei Blickwinkeln zeigt die Autorin, wie unterschiedlich die Erinnerungen und Gewichtungen ausfallen: Wenn es um Theos Denken und Fühlen geht, schreibt sie in der dritten Person; Frieda spricht in der Ich-Perspektive. Für sich genommen, sind die beiden Sichtweisen durchaus schlüssig. Doch sie widersprechen einander oft und zeigen, dass die Brüche zwischen Vater und Tochter nicht restlos zu kitten sind. Eine wie im Titel angekündigte Annäherung passiert durchaus. Aber zu einer Versöhnung kann es nicht kommen.
Als Theo geboren wurde, regierte in Österreich noch ein Kaiser. Mittlerweile ist Theo fast 100 Jahre alt und schaut zurück auf sein Leben: auf seine ärmliche Kindheit, seine sechs Jahre als Soldat im Zweiten Weltkrieg, auf seinen Beruf als Gärtner und auf seine beiden Ehen. Was Theo auszeichnet, ist sein unverwüstlicher Lebenswille und seine Art, sich wegzuducken, wann immer er kann. In den Augen seiner Tochter ist er deshalb ein «Befehlsempfänger» geblieben.
Ein Sittengemälde
Doch Theo hegte auch Träume: «Er hatte sich immer vorgestellt, am Ende würde noch einmal etwas Grosses kommen, eine besondere Genugtuung, eine wichtige Erkenntnis, ein unerwartetes Glück.» Und tatsächlich: Er erlebt dieses Glück mit der ukrainischen Krankenpflegerin Ludmila. Sie zieht bei ihnen ein, weil Berta und er nicht mehr alleine zurechtkommen. In Ludmilas Gegenwart blüht Theo regelrecht auf, er öffnet sich und spricht unbefangen über seine Vergangenheit. Das wiederum führt bei Berta und Frieda zu heftiger Eifersucht und nach wenigen Monaten zum Bruch mit Ludmila.
Im Roman «Die Annäherung» zeichnet Anna Mitgutsch ein Sittengemälde, das unter die Haut geht. Exemplarisch porträtiert sie die Kriegs- und die nachfolgende Generation und findet selbst für kleinste Gefühlsregungen eine adäquate Sprache. Und: Sie schreibt so schonungslos und gleichzeitig einfühlsam über das Alter, dass man sich vor diesem Buch verneigen muss.