Die Geschichte der Autorin Taiye Selasi könnte globaler nicht sein: Sie ist mit Zwillingsschwester und Mutter in Boston aufgewachsen, hat in New York, London und New Delhi gelebt, ihr gegenwärtiges Domizil ist Rom. Geboren wurde sie in London von einer Mutter mit nigerianischen und schottischen Wurzeln und einem ghanaischen Vater, einem Arzt und Poeten, der die Familie früh verlassen hat und seither in Saudi-Arabien lebt.
Studium in Yale und Oxford
Bevor Selasi begann, was sie seit Kindsbeinen wollte, nämlich Schriftstellerin zu werden, hat sie Philosophie und Internationale Beziehungen studiert (mit Abschlüssen in Yale und Oxford). Vor fünf Jahren hat sie einen viel beachteten Essay publiziert: «Bye-bye Babar oder was ist ein Afropolitan?». Mit der Wortschöpfung «Afropolitan» hat Selasi afrikanische Eliten beschrieben, die heute mit grosser Selbstverständlichkeit rund um den Erdball Karriere machen, nirgends daheim sind und ihren Herkunftsländern Intelligenz entziehen.
Dieses Thema greift sie auch in ihrem Romanerstling «Ghana must go» auf, der sie vor kurzem auf die prestigereiche «Granta-List» gebracht hat – eine nur alle zehn Jahre erstellte Liste der zwanzig vielversprechendsten, englisch schreibenden Romanciers unter 40.
Schmerzliches Faktum der Geschichte Ghanas
Der Titel erinnert an ein schmerzliches Faktum der Geschichte Ghanas: 1983 hatte der Nachbarstaat Nigeria binnen 24 Stunden rund zwei Millionen ghanaische Immigranten aus Nigeria ausgewiesen – was wiederum die späte Revanche für die Ausweisung nigerianischer Immigranten aus Ghana im Jahr 1969 war. So berührt der Titel «Ghana must go» schon die Themen Migration und Exil, wobei die deutsche Version «Diese Dinge geschehen nicht einfach so» näher beim Plot ist und auf Rassismus und Diskriminierung verweist.
Es ist die traurig verschlungene Geschichte einer Familie: Vater Kwaku kommt aus Ghana, wird in den USA erfolgreicher Chirurg, verliebt sich dort in die aus Nigeria stammende Fola, welche ihre Karriere als Juristin seiner Spitallaufbahn opfert. In der Nähe bei Boston kaufen sie ein Haus und haben vier Kinder: Olu, der wie der Vater Chirurg wird, die Zwillinge Taiwo, später vielfältig begabte Künstlerin, doch einsam und unglücklich, genauso wie ihr Bruder Kehinde und schliesslich das Nesthäkchen Sadie, mit ihrer Hautfarbe und Figur im Hader. Sadie ist gerade vier, als ihr Vater nach einer vernichtenden, rassistisch gefärbten Erniedrigung – er wird wegen einer ohne seine Schuld tödlich verlaufenden Operation entlassen – davon läuft. Und zwar aus Scham und ohne etwas zu sagen. Als er zehn Wochen später zurückkommt, ist die Familie weg, das Haus verkauft. Die verzweifelte Fola hat nicht zugewartet, die Familie verstreut sich später in alle Himmelsrichtungen.
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Ein dramatisches Aufeinandertreffen
16 Jahre nach diesem dramatischen Zerfall des familiären Nests setzt das Buch ein, und zwar mit Kwakus Sterben. Zurückgekehrt nach Ghana, wo er sich ein Haus gebaut und eine neue Frau geheiratet hat, erliegt Kwaku 57jährig in seinem Garten einem Herzinfarkt. Daraufhin reisen die vier Kinder – alle vom zuvor Erlebten auf je eigene Art versehrt – zur Beisetzung nach Ghana. Zum ersten Mal seit langem treffen Mutter und Geschwister aufeinander, zum ersten Mal sehen sie den ärmlichen Geburtsort ihres Vaters. Alte Wunden brechen auf, nach und nach stossen sie zu den lange verschwiegenen Schmerzpunkten ihrer Biografie vor. Jede Figur kann dann der Trauer Raum geben und es kommt am Totenbett Kwakus zu einer Art Aussöhnung, einem Verstehen, dass all diese Dinge nicht einfach so geschehen sind.
Der Roman umspannt in der Gegenwart nur drei Tage, darin eingelassen sind die nicht chronologisch erzählten Rückblenden zu Entwicklung und Geschick aller Familienmitglieder, Erzählungen von Liebe (Olu und seine chinesische Frau Ling) und Schmerz (eine fast unerträglich zu lesende Geschichte vom Missbrauch der Zwillinge im Alter von 13 Jahren).
Afrikanische Eliten ohne Heimat
Die Scham und das Verbergen auf der einen, das Enthüllen von Geheimnissen und Entdecken der Wahrheit auf der anderen Seite, diese Themen bilden das Herz des facettenreichen, sprachlich hochkarätigen Romans. Eindrücklich verbindet Taiye Selasi ihr afrikanisches Erbe mit den Migrationserfahrungen der neuen Eliten, die wie sie selbst, sich überall durchzusetzen vermögen, aber kaum irgendwo Heimat kennen.
Der Roman ist gewiss von autobiografischer Erfahrung mitgeprägt, soziologische und spirituelle Verbindungslinien zur Herkunft der Autorin gibt es bei allen Figuren. Und im Hintergrund sind stets auch die historischen und kulturellen Verwerfungen präsent, welche die entkolonialisierten afrikanischen Staaten belasten. Kwakus Vater war ins Wasser gegangen, nachdem die englische Kolonialmacht ihn ungerechtfertigerweise ausgepeitscht hatte, Folas Vater im nigerianischen Bürgerkrieg ermordet worden.
Vorbilder Wole Soynka und Teju Cole
Gleichzeitig ist das Buch ein eigenwillig und kraftvoll gestaltetes Stück Fiktion – Literatur mit komischen, grotesken und handkehrum beklemmenden und poetisch berückenden Szenen von Trennungen, Rivalitäten, Neid zwischen den Geschwistern und von der Not der Eltern Kwaku und Fola.
Die souveräne polyperspektivische Darstellung erinnert an Romane wie «Der Gott der kleinen Dinge» von Arundhati Roy oder «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» von Milan Kundera, welche Taiye Selasi zu ihren Lieblingsbüchern zählt, während sie als Vorbilder aus dem afrikanischen Erbe Nobelpreisträger Wole Soynka und den jungen Teju Cole nennt. Von Taiye Selasis beeindruckender, eigener Stimme wird man gewiss noch viel erwarten dürfen.