«Wäre mein Vater kein Mörder gewesen, hätte ich nie das Licht der Welt erblickt.» So beginnt der gerade auf Deutsch erschienene Roman des türkischen Schriftstellers Hakan Günday.
Ein Junge wird zum Schlepper
«Flucht» ist die Lebensgeschichte eines noch jugendlichen Menschenhändlers, der Flüchtlinge wie übereinandergestapelte Tomatenkisten über die Türkei in die EU schleust und in fensterlosen Kellerlöchern zwischenlagert – nicht mitleidig, sondern angewidert von ihrem Geruch, ihrer Wehr- und Würdelosigkeit:
«Ich sorgte dafür, dass eine Kanalisation, durch die man Menschen schleuste, gereinigt wurde und nicht verstopfte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass die mir wie allen anderen auch angeborene Empathiefähigkeit an diesem Punkt aussetzte. Ich war ausserstande, mich in diese Halb-Scheisse-Menschen hineinzuversetzen.»
Verstören als Stilmittel
Über Hakan Gündays Veröffentlichungen sagte ein türkischer Kritiker einst, sie klängen, als würde er seinen Ekel vor der Schlechtigkeit der Welt erbrechen. Seine Bücher seien eine Zumutung.
Günday nimmt das als Kompliment. «Alle Schriftsteller, die ich bewundere, haben mich verstört», sagt er und vergleicht menschliche Aufmerksamkeit mit einem Muskel, den man ständig trainieren muss.
«Wenn ich heute aufhöre Fragen zu stellen, dann fühle ich ein Jahr später nichts mehr beim Blick in die Zeitung, blättere nur noch zum Sportteil weiter.
Ich kann mir dann den Flüchtlingsdeal zwischen der Türkei und der EU ansehen, ohne dabei zu denken, wie zynisch es doch ist, wenn wir Türken durch diesen Deal bald visafrei in den Schengenraum reisen dürfen – während in den letzten Jahren mehr als 5000 Menschen gestorben sind, um den zu erreichen!»
Ein Kind wird zum Monster
Gündays Werke, egal ob sie, wie der Vorgängerroman «Extrem», von verkauften Kinderbräuten oder, wie nun «Flucht», von zum Menschenhändler geborenen Jungen handeln, haben alle ein gemeinsames Motiv: Ihre Helden, die man als Leser eher fürchtet als liebt, wollen ausbrechen aus dem Korsett ihres Schicksals.
Auch Gaza, das Kind, das in «Flucht» nach nur wenigen Seiten zum schlagenden, folternden Monster wird, versucht sich von seinem Schicksal zu befreien. Doch der Junge schafft es nicht.
«Viele Dinge tat ich, an die ich nie wieder denken möchte … Um das Gestern zu vergessen, nützte es aber nichts, das Heute zu leben. Ganz im Gegenteil. Das, was es zu vergessen galt, sich aber nicht vergessen liess, potenzierte sich. Denn man hätte zuerst das Morgen vergessen müssen. So weit verdrängen, dass man glaubt jede Sonne, die aufging, sei neu.»
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Lesen als Grenzerfahrung
Hakan Gündays Geschichten bringen den Leser an seine Grenzen . « Flucht» ist einer dieser Romane, den man weglegen möchte, aber nicht kann.
Einer, vor dessen Inhalt man die Augen nicht verschliessen kann, weil man weiss, dass man keine gültige Ausrede für den eigenen Wohlstand hat.
«Das Buch ist in der Türkei im Jahr 2013 erschienen», so Günday. «Ich dachte damals, ich hätte mir die schlimmsten Grausamkeiten ausgedacht, die mit Flüchtlingen geschehen könnten. Aber inzwischen weiss ich, wie naiv ich war.
Was immer ich geschrieben habe, ist nicht so brutal, wie die Realität, die wir jeden Tag erleben. Es ist nur ein Schatten davon.»
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell. 30.08.2016, 06:50 Uhr