Auf Russes Hauptplatz sprudeln Springbrunnen, unter schattigen Platanen spielen Rentner Schach. Nur ein paar hundert Meter von hier wurde Elias Canetti geboren. Doch nicht viele Einwohner in Russe wissen mit dem Namen etwas anzufangen.
Mit Historikerin Veselina Antonova bin ich unterwegs in ein Viertel mit gepflegten Villen aus dem 19. Jahrhundert, die meisten einstöckig, mit Souterrain und grossen Gärten. Veselina zeigt nach vorn: «Dies ist das Geburtshaus von Elias Canetti. Hinter diesem Fenster dort, hörte er als Kind Geschichten von Werfwölfen und Vampiren.» Das Anwesen, in dem ich ein Museum erwartet hätte, ist grau, der Putz bröckelt, Unkraut wuchert, vorm Gartentor hängt eine schwere Kette.
Nicht mal eine Tafel erinnert an Canetti
Grossvater Canetti kam mit seiner Familie aus Odrin, dem heute türkischen Edirne. Man hatte die Juden dort beschuldigt, einen türkischen Jungen entführt zu haben. Grossvater Canetti, Sprecher der jüdischen Gemeinde, erzürnte die Verdächtigung so sehr, dass er Odrin verliess und sich in Rustschuk niederliess, damals mit 20'000 Einwohnern die grösste Stadt Bulgariens.
«1905 wurde Elias Canetti hier geboren. Bis 1911 lebte er mit seinen Eltern hier. Dann zogen sie fort. Er selbst ist nur noch ein einziges Mal hierher zurückgekehrt. Es ist eine Schande, dass es am Haus nicht einmal eine Gedenktafel für den berühmtesten Sohn unserer Stadt gibt», sagt Veselina Antonova. Und fügt zur Erklärung hinzu: «Canetti war nie mit dem System in Bulgarien einverstanden. Also schwiegen ihn die Kommunisten tot. Bis in die 80er Jahre wurde kein einziges seiner Bücher ins Bulgarische übersetzt. Das Chaos nach dem Fall des Sozialismus verhinderte dann erneut eine intensivere Beschäftigung mit seinem Werk.»
Streit um das Handelshaus der Familie
Seit Jahren versuchen Veselina Antonova und die 1992 gegründete Elias-Canetti-Gesellschaft, Namen und Werk des Literaturnobelpreisträgers ins Bewusstsein der Stadt zu heben. Eine Schule, eine Strasse tragen bereits seinen Namen, ein Denkmal soll errichtet werden.
Auf einer Strasse, die zum früheren Hafen der Stadt hin abfällt, macht Veselina Halt vor einem mondän wirkenden Backsteingebäude: «Das ist das einstige Geschäftshaus der Familie Canetti. Die Tochter von Elias Canetti will es unserer Gesellschaft schenken, damit wir das Erbe ihres Vaters hier bewahren können. Wir hatten bereits begonnen, es mit Spenden zu renovieren, als es plötzlich gerichtliche Probleme gab.» Ein Unbekannter erhob mit gefälschten Papieren Anspruch auf das Gebäude. Seitdem hüllt sich die bulgarische Justiz in Schweigen. Es sieht nicht aus, als wolle sie dem Spuk ein schnelles Ende bereiten.
Ob sich denn sagen lasse, was Elias Canetti den Menschen seiner Geburtsstadt heute noch geben könne, frage ich Veselina zum Abschied. «Für mich ist immer wieder erstaunlich, dass ein Mensch, der nur sechs Jahre hier lebte, sich an eine solch immense Fülle von Details des Lebens hier erinnern kann. Durch Canettis Bücher, vor allem seiner Autobiografie, kann man lernen, Russe aus anderen Blickwinkeln zu betrachten, so dass man immer wieder wie neu vor seiner eigenen Stadt steht.»