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Ein Bild eines Karussels. Es dreht und läuchtet in der Nacht.
Legende: Claire Flannery ist endlich raus aus dem Alltagstrott. Doch sie dreht sich noch immer im Kreis. flickr/Robert Gebler

Literatur Endlich frei – und doch dreht sich alles wie im Hamsterrad

Die junge Britin Lisa Owens erzählt in ihrem Debüt, wie es ist, wenn jemand freiwillig den Job kündigt und nach seiner Bestimmung sucht. Das Problem dabei: Die Protagonistin hat nicht die leiseste Ahnung, wohin die berufliche Reise gehen könnte. Eine leichtfüssige und zugleich tiefsinnige Lektüre.

Während ehemalige Klassenkameradinnen bereits als Apothekerinnen arbeiten und zwei kleine Kinder haben, tritt Claire Flannery an Ort. Sie ist seit sieben Jahren mit demselben Mann zusammen, doch Heirat und Familiengründung schieben die beiden vor sich her.

Das wäre nicht weiter schlimm, würde Claire mit Ende zwanzig beruflich durchstarten. Dem ist aber nicht so: Nach ein paar Gelegenheitsjobs und einer Anstellung im Bereich der «kreativen Kommunikation» entscheidet sie sich für den Ausstieg: «Ich glaube fest daran, dass jeder eine Bestimmung hat.»

Ein Porträt von Lisa Owens.
Legende: Autorin Lisa Owens, geboren 1985, lebt in London. Alexander James

Interessante junge Stimme

Claires Erfinderin, die Autorin Lisa Owens, hat diese Bestimmung offenbar gefunden: 1985 geboren und in Glasgow und Hertfordshire aufgewachsen, lebt sie in London und hat sechs Jahre lang für Literaturagenturen und Verlage gearbeitet. Doch eines Tages hatte sie genug, setzte sich an ihren ersten eigenen Roman und gilt heute als eine der interessantesten jungen Stimmen Englands.

Zu Recht, denn Thema und Tonfall zeugen von einer eigenständigen literarischen Qualität. «Not working» ist ein amüsanter und gleichzeitig zutiefst ehrlicher Roman über das Leben ohne Job und hat in der Verlagsszene bereits ein Jahr vor der Veröffentlichung für Entzücken gesorgt. Fast zeitgleich mit dem englischen Original ist dieses Debüt in neun Übersetzungen erschienen.

Vorsätze verpuffen

Als Claire noch einen Job hatte, stellte sie sich oft vor, was sie alles tun würde, wenn sie nicht mehr arbeiten müsste: Sie könnte jeden Tag ins Fitnessstudio gehen, endlich den «Ulysses» fertig lesen, die Mechanismen der Wirtschaft kapieren oder moderne Kunst. Doch diese Vorsätze verpuffen allesamt. Stattdessen trinkt Claire mehr Alkohol, als ihr guttut, sie lässt die Wohnung verdrecken und sieht all ihre Schwächen wie unter einem Vergrösserungsglas.

Ihr Freund Luke und auch ihr Vater geben zwar Gegensteuer und unterstützen sie liebevoll, doch der grosse Rest ihres Umfelds reagiert zunehmend gereizt auf ihre freiwillige Auszeit. Freunde und Familie sprechen von «Luxus» oder erklären in strengem Ton, dass in dieser Gesellschaft jeder seine Aufgaben wahrnehmen müsse. Und Claire selbst konstatiert nach einer Weile: «Wenn ich ehrlich bin, komme ich mir die meiste Zeit nutzlos vor: Es ist erschreckend, wie rasant und steil der Abstieg vom produktiven Menschen zu reiner Raumverschwendung vonstattenging.»

Buchhinweis

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Lisa Owens: «Abwesenheitsnotiz», aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Karen Witthuhn. Piper, München/Berlin, 2016.

Rabiate Fussgängerin

Auf der Suche nach einer sinnstiftenden Arbeit gerät Claire in eine veritable Krise, und die Autorin Lisa Owens bringt das Kunststück fertig, leichtfüssig und zugleich tiefsinnig darüber zu schreiben. In kurzen Kapiteln berichtet die Ich-Erzählerin über ihr Leben und den Alltag in London. Unter der Überschrift «Zebrastreifen» beispielsweise notiert sie einen einzigen Satz: «Du musst mich nicht über die Strasse winken; das Gesetz sagt, du sollst anhalten, und ich muss dir dafür nicht danken.» In solchen Passagen verwandelt sich die Selbstzweiflerin in eine rabiate Fussgängerin.

Zu Hochform läuft die scharfzüngige Beobachterin in den Dialogen auf: Ob Partygeplänkel, unnötiger Streit mit Luke oder ätzende Fragen der Mutter – Claire spiesst alles auf und zeichnet gleichzeitig stimmige Porträts. Dabei bleibt sie selber auch immer Teil der Satire und hält uns einen Spiegel vor, der abgründiger ist, als uns lieb sein kann. Denn zur Leistungsgesellschaft gehören wir alle.

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