«Kommen Sie, wir sind nicht im Zweiten Weltkrieg», mit diesen Worten nahm Orhan Pamuk der besorgten Frage nach der Lage der Türkei und den jüngsten Bombenattentaten gleich ihre Dramatik. «Natürlich ist gerade eine schwierige Zeit. Der Friedensprozess mit den Kurden hat sich zerschlagen.» Aber sogar im Zweiten Weltkrieg, schob Pamuk nach, sei wunderbare Literatur entstanden – kein Grund also, sich nicht auch jetzt das Recht zu nehmen, mal nur über Literatur zu sprechen.
Im Übrigen, so Pamuk, «sind wir an Bomben gewöhnt. Wenn wir uns von jeder Bombe aus dem Konzept bringen liessen ...» Und so läuft auch in Pamuks gerade auf Deutsch erschienenem Roman «Diese Fremdheit in mir» die grosse Politik als Hintergrundmusik mit: Entlang dem Leben seiner Hauptfigur, dem Straßenverkäufer Mevlut, erzählt Pamuk von den ungeheuren Veränderungen, die seine geliebte Heimatstadt Istanbul im Zeitraum von 1969 bis 2012 durchgemacht hat.
Ist Istanbul noch meine Stadt?
Die Metropole am Bosporus, in der Pamuk selbst die 64 Jahre seines Lebens verbrachte, ist seit seiner Geburt von einer auf heute 15 Millionen Einwohner gewachsen.
Als Protagonist Mevlut im Alter von 12 Jahren mit seinem Vater aus dem anatolischen Bergdorf in die Stadt kommt, errichten die beiden – wie die Verwandten und viele andere auch – kleine Wohnhütten auf den Hügeln der Stadt und verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Joghurt und Boza, einem Getränk aus vergorener Hirse. Mevlut liebt das Spazieren durch die Gassen der Stadt bald ebenso wie das Tragjoch auf seinen Schultern und den Ruf «Boooza», mit dem er seine Spur durch die Stadt zieht.
Mevlut ist naiv und ein Träumer; immer wieder wird er bestohlen und lässt sich sogar um die «richtige» Frau betrügen: Aber es ist sein Talent, daraus nicht nur das Beste zu machen, sondern wirkliche Liebe, und ein glückliches Familienleben mit Rayiha zu finden. Auch der Boza bleibt er treu – während sich um ihn herum die Stadt in schwindelerregendem Tempo verändert; die wachsenden Betontürme den Blick auf den Bosporus verstellen. Aber obwohl sich wie Mevlut auch Orhan Pamuk selbst fragen, ob dies noch ihre Stadt sei, werden sie ihr immer die Treue halten.
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Das spannende Leben in den Strassen
«Das Buch ist weder nostalgisch noch melancholisch», sagt Pamuk im Gespräch. «Mich regt es ja selbst auf, dass mein Land in vieler Hinsicht provinziell und arm ist.» Dennoch erlaubt sich Pamuk im Roman auch den fortschrittskritischen Blick dessen, der an der Schönheit alter Dinge hängt. «Die Stimmung dieses Buches ist deshalb optimistisch, weil ich es diesen vielen Details des Lebens auf der Strasse gewidmet habe.»
Es sei ihm für diesen Roman äusserst wichtig gewesen, nicht als Angehöriger der oberen Mittelschicht das fremde Milieu als Melodrama zu erzählen. «Deshalb habe ich sehr viele Interviews geführt: mit Kellnern, Reis- und Hühnerverkäufern, Barbesitzern, Polizisten – ich erfuhr unzählige Details vom Leben auf der Strasse, die mich so glücklich machten, dass ich das Buch wachsen und wachsen liess.»
Tatsächlich gewinnt man mit «Diese Fremdheit in mir» einen tiefen Einblick in die Alltagspersönlichkeit von Istanbul – Pamuks Geschenk an seine Leser und an seine Stadt.