Neil Gaimans neuer Roman verkörpert alles andere als das, was man von einem Fantasy-Roman erwartet: Der Roman ist schlank. Kein dicker Wälzer. Kein Fortsetzungsroman. Er spielt in England, auf dem Land und nicht in einer fiktionalen Parallelwelt. Es ist ein Schauerroman der leisen Töne und keine heroische Abenteuergeschichte. Kein Kitsch. Obwohl es auch hier im Kerngeschäft um das Kräfteringen zwischen Gut und Böse geht.
Und dann nicht zu vergessen, die Sprache: Neil Gaiman schreibt nicht in einer von Dialogen dominierten Alltagssprache, die für Fantasy-Romane die Regel ist. Seine Sprache ist poetisch und ausdrucksstark. Sie lässt gedankliche Einschübe des Ich-Erzählers über sich und die Welt zu. Ein kleines sprachliches Juwel also, zwischen zwei leuchtend blauen Buchdeckeln, das weit mehr ist als Unterhaltung und Eskapismus.
Verstörende Erinnerungen
Neil Gaiman erzählt uns aus dem Leben eines Mannes Mitte 40. Der Mann kehrt wegen einer Beerdigung an den Ort seiner Kindheit zurück. Er beginnt sich nach und nach an eine Geschichte zu erinnern, die er vor langer Zeit erlebt hat, als er sieben Jahre alt war. Eine Geschichte so beängstigend und verstörend, dass er sie während Jahren verdrängen musste.
Damals, vor 40 Jahren, wurde er Opfer eines neuen Kindermädchens, das auf ihn und seine Schwester hätte aufpassen sollen. Doch die junge Frau entpuppte sich als Inkarnation des Bösen. Ein Feenwesen, das nur eines will: den Jungen, seine Familie und seine heile Welt zerstören.
Eine Parabel über Sein und Schein
Doch das sind nicht einfach Kindheitsfantasien. Vielmehr ist Neil Gaimans Roman eine Parabel darüber, was in unserer Wahrnehmung Sein oder Schein ist. Wenn im Kinderzimmer im Dunkeln die Schatten zu bösen Geistern, Hexen und Gnomen werden, sind das vielleicht Kindheitsfantasien, aber in der Wahrnehmung eines Kindes lösen sie Ängste aus, die real sind.
Neil Gaimans Protagonist leidet als Kind daran, dass seine Horror-Träume Realität werden. So wird das Kindermädchen, weil es den Vater verführt, zu einer bösartigen zerstörerischen Feengestalt. In seinem Kampf gegen diese finstere Macht erhält der Junge Unterstützung von einem etwas älteren Mädchen. Sie heisst Lettie Hempstock und lebt auf der benachbarten Farm. Zusammen erleben sie Unglaubliches. Denn der Ententeich am Ende der Strasse wird zum tiefen, allwissenden Ozean.
«Der Ozean am Ende der Strasse» ist ein tiefgründiger Fantasy-Roman über das Erwachsenwerden, über Freundschaft und Identität. Ein Roman, der berührt, überrascht und die Magie der Kindheit wieder zum Leben erweckt.
Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 10.12.2014, 12:10 Uhr