«Die Zeit» hat im Juni 2012 über die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker geschrieben: «Womöglich ist sie momentan die bedeutendste lebende Dichterin überhaupt, gewiss zumindest deutscher Sprache.» Sind sie mit dieser Bewertung einverstanden?
Beatrice von Matt: Ich bin skeptisch gegenüber absoluten Superlativen im Urteil über Schriftsteller. Jeder und jede ist auf eigene Weise gut. Aber Friederike Mayröcker gehört mit Sicherheit zu den herausragenden lyrischen Stimmen in deutscher Sprache.
Was macht Ihrer Meinung nach die Faszination von Mayröckers Texten aus?
Die Radikalität, mit der sie sich ihrem Schreiben aussetzt. In den letzten Jahren sind es vor allem Themen wie Liebe, Schmerz, Tod, Alter. Grossartig, wie diese Dichterin die Sprache musikalisch durchrhythmisiert, sodass man sich dem Sog ihrer Verse oder ihrer Prosa kaum entziehen kann. Trotzdem: Schaut man genau hin, so sind ihre einzelnen Motive und Bilder immer ganz konkret erfahren, sinnenstark.
Wie hat sich das Schreiben von Friederike Mayröcker im Laufe der langen Schaffenszeit verändert?
Ihre frühesten Texte – solche aus den 1940er- und frühen 50er-Jahren – waren stiller und zurückhaltender. Sehr schön, aber traditioneller. In einem gewissen Sinn runder, kompakter. Nach und nach aber hat sie sich aller Einschränkungen entledigt. Besonders, nachdem sie sich von der «Wiener Gruppe» etwas zurückgezogen hatte. Sie schrieb gewissermassen über den Rand von Verszeilen und Strophen hinaus.
Das geschah nicht zuletzt über ihre poetischen Prosabücher. Diese könnte man als weit ausgreifende Prosagedichte im Romanformat bezeichnen. «Die Abschiede» von 1980 waren damals das erste dieser Art. Ihr Alterswerk ist dann möglicherweise noch um einige Grade wilder. Noch schonungsloser der eigenen Person gegenüber. Der Gedichtband «Das besessene Alter» von 1998 läutet dieses späte Werk ein.
Wie aktuell ist für Sie Friederike Mayröckers Werk heute?
Das konsequent Fragmentarische ihrer Weltsicht wirkt doch sehr heutig. In «études» von 2013 oder in «cahier» von 2014 gestattet sie sich nur mehr Wahrnehmungssplitter, Gedankenfetzchen.
Friederike Mayröcker hat eine grosse Fangemeinde. Können Sie den typischen «Mayröcker-Fan» beschreiben?
Eher musische Leute sind das. Auffällig viele Dichterinnen, Musiker, Künstlerinnen sind darunter. Wer in der Literatur auf den Plot aus ist, den schnell konsumierbaren Inhalt, wird kaum zu ihrer Fangemeinde gehören.
Beeinflusste Mayröcker andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller? Wenn ja, wie?
Sich dem Sprachfluss zu überlassen, berührt sich mit vielen Tendenzen der heutigen Lyrik. Es gibt Mayröcker-Anklänge bei Ulrike Draesner. Auch bei Monika Rinck, einer anderen berühmten deutschen Lyrikerin, mag man Spuren finden. Aber Nachfolgerinnen oder gar Nachahmerinnen sind diese in den 1960er-Jahren geborenen Autorinnen nicht. Sie sind ihrer eigenen Avantgarde verpflichtet.
Welches Werk von Mayröcker gefällt Ihnen persönlich am besten?
«Requiem» hat mich schon sehr beeindruckt. Sie schrieb das Buch nach dem Tod ihres Lebensgefährten Ernst Jandl. Sozusagen als Nachruf.
Welchen Text empfehlen Sie jemandem als Einstieg, der oder die Friederike Mayröcker nicht kennt?
Vielleicht wäre gerade «Requiem» ein solches Einstiegsbuch in das nicht gerade leicht zugängliche Werk der grossen Dichterin.