Nur gerade fünf – grundverschiedene – Schriften und ein paar Briefe hat Georg Büchner uns hinterlassen. Und alle fünf haben bis heute ihre Lebendigkeit und Aktualität bewahrt: Der «Hessische Landbote», ein sprachgewaltiges politisches Pamphlet, überschrieben mit der unvergesslichen Losung: «Friede den Hütten, Krieg den Palästen». Dann «Dantons Tod», das freche Drama zur französischen Revolution. «Lenz», die literarisch grandiose Erzählung von einem Dichter, der sich sukzessive abhanden kommt. «Leonce und Lena», das poetisch verspielte und melancholische Lustspiel einer ironisch-unausweichlichen romantischen Liebe.
Und schliesslich das «Woyzeck»-Fragment, das ganz allein schon Büchners Rang als herausragender Autor und Vorläufer für viele Schreibende bis ins 21. Jahrhundert begründen könnte: Szenen von einer gequälten Kreatur, sozial am Rande stehend, geschunden und einsam, tötet Woyzeck statt seiner Peiniger ausgerechnet das Liebste, was er hat – seine Geliebte Marie. Alle diese Werke fussen übrigens auf vorgefundenen Stoffen. Büchner war kein Erfinder, aber welch' ein Gestalter!
Büchner, Arzt-Sohn und Medizin-Student
Wer war dieser Georg Büchner, der in vielem Karl Marx, Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche vorwegnahm und bis heute Regisseure, Musiker und Künstler zum Weiterdenken und Weiterentwickeln seiner Themen und Texte verlockt? Es ist gewiss kein Zufall, dass der bedeutendste Literaturpreis für deutsch schreibende AutorInnen nicht nach Goethe, Schiller oder Kleist benannt ist, sondern eben nach Georg Büchner.
Aufgewachsen ist er als Arztsohn in Darmstadt, in einer zum Establishment des Grossherzogtums zählenden Familie. Er studiert dann zwei glückliche Jahre im weltläufigen französischen Strasbourg Medizin, atmet die Luft der Freiheit und eines libertären Lebens, verliebt und verlobt sich dort, muss indes als künftiger Arzt sein Studium im Lande, im provinziellen Giessen, abschliessen.
Ein sozialkritischer Revolutionär
Zurück in Hessen gärt es unter den Studenten, und Büchner schliesst sich einer sozialkritischen revolutionären Gruppe um den Theologen Friedrich Ludwig Weidig an. Er verfasst deren aufrührerische Kampfschrift, welche nicht nur den absolutistischen Feudalismus, sondern auch das liberale Bürgertum attackiert und den Gegensatz zwischen Arm und Reich als entscheidenden revolutionären Hebel erkennt.
Doch die Bewegung, früh von Spitzeln unterwandert, scheitert. Viele Freunde Büchners werden verhaftet, und er selbst entgeht nur durch Zufall dem Kerker. In «Dantons Tod» verarbeitet er diesen Fehlschlag, seine Desillusionierung und seine Schuldgefühle, indem er seine Erfahrung in den Irrtümern der grossen Französischen Revolution spiegelt.
Tagsüber Forscher, nachts Dichter
Büchner kann den hessischen Häschern entkommen, geht erneut nach Strasbourg und widmet sich fortan fleissig, ja beinahe verbissen seiner Laufbahn als Naturwissenschaftler. Dies führt ihn nach der Promotion als blutjungen Anatomie-Dozenten an die gerade gegründete Universität Zürich.
Vom «grässlichen Fatalismus der Geschichte» zermürbt, träumt er von persönlichen und politischen Revolutionen nurmehr nachts, beim Schreiben – ohne jedoch seine soziale Empathie und seine poetischen Urkräfte zu verlieren. In Zürich erliegt der Dichter und Forscher im Februar 1837 einer Typhuserkrankung. Seine – ausser «Dantons Tod» – nicht zu Lebzeiten publizierten Werke werden erst 50 Jahre später und wesentlich im 20. Jahrhundert in ihrer Bedeutung wahrgenommen.
Neue Büchner-Biografie mit kühnen Deutungen
Von kaum einem anderen der grossen deutschsprachigen Autoren wissen wir biographisch so wenig. Die Quellenlage ist – auch wegen familiärer Zensur und Unachtsamkeit der Nächsten – katastrophal. Aus dieser Not macht Büchners jüngster Biograf, der Mainzer Germanist Hermann Kurzke, nun eine Tugend.
In seinem Buch «Georg Büchner: Geschichte eines Genies» bricht er gleichsam ein Tabu: Statt wie gelernt zwischen Text und Lebensumständen des Autors strikt zu trennen, sucht Kurzke in den Werken Büchners nach Spuren seines – kaum dokumentierten – Lebens. Dabei gelangt er in produktiver Engführung von Schriften und biografischen Indizien zu vielen plausiblen und einigen allzu kühnen Deutungen dieses Genies.
Büchner bleibt ein Rätsel
Freilich gilt auch für Kurzke: «Da ist etwas Inkommensurables. (...) Mit Büchner wird man nicht fertig.» Schon vor 25 Jahren hatte der aus der DDR nach Tübingen gekommene Starkritiker und Germanist Hans Mayer, der im Zürcher Exil vor dem Zweiten Weltkrieg die wegweisende Studie «Georg Büchner und seine Zeit» verfasst hatte, im Gespräch mit Schweizer Radio DRS bekannt: «Man kommt ihm nicht bei. Er wird mir immer rätselhafter.»
Was uns bleibt, sind Büchners staunenswerte, enorm nachhallende Sätze: Wenn Prinzessin Lena sich sorgt «ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloss weil sie SIND». Wenn Danton grübelt «was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?» Oder wenn der einsame, getriebene Woyzeck dem Hauptmann erklärt: «Wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur. (…) Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.»
Faszination auch 200 Jahre später
Unvergleichlich, unvergesslich auch das Bild vom an sich irre gewordenen Sturm- und Drangdichter Lenz: «Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.» Der Figur des Lenz' hat Büchner auch sein Credo in Sachen Kunst in den Mund gelegt: «Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist, das Gefühl, dass Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen.»
So bleibt die Faszination vor Büchners Texten ungebrochen lebendig, und Hermann Kurzkes Fazit ist beizupflichten: «Auch zwei Jahrhunderte nach seiner Geburt möchte man mit Georg Büchner Gespräche führen. Ich würde ihn gern ausfragen. Aber er würde sich selbst auch nicht erklären können.»