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Literatur Georgi Gospodinov erzählt, um ganz Mensch zu sein

Der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov erklärt in seinem neuen Roman «Physik der Schwermut», warum wir Erzählungen zum Leben brauchen. Denn erst, wenn wir die Geschichten anderer Menschen kennen, können wir konfliktfrei mit ihnen zusammenleben.

Georgi Gospodinov ist 1968 in einem kleinen Dorf in Bulgarien geboren, inzwischen lebt und arbeitet er in Sofia. Mit seinem Debut «Natürlicher Roman» hatte er vor vielen Jahren internationalen Erfolg. Der New Yorker, die Times, der Guardian – alle wichtigen englischsprachigen Publikationen begeisterten sich für seine postmoderne Erzähltechnik, er wurde sogar verglichen mit Jorge Luis Borges oder Fernando Pessoa. Seitdem ist Gospodinov das Aushängeschild der zeitgenössischen bulgarischen Literatur. Nun legt er mit seinem neuen Roman «Physik der Schwermut» nach – und erklärt darin, warum die Vergangenheit oft spannender ist als die Zukunft.

Hauptfigur des Romans ist Georgi, der als kleiner Junge eine Fähigkeit zur übersteigerten Empathie besitzt. Sei es sein Grossvater, ein Krokus, eine Schnecke oder der Minotaurus – Georgi kann sich in das Dasein anderer Lebewesen so einfühlen, als wäre es sein eigenes. Und was er da erlebt, überträgt sich beim Lesen auf den Leser oder die Leserin.

Geschichten ermöglichen das Zusammenleben

Für Georgi Gospodinov ist die Empathie auch ein ästhetisches Prinzip. Es sei schliesslich die Empathie, die zum einen den Schriftsteller auszeichne, und zum anderen die Leserin im Text halte: weil sie die Möglichkeit eröffne, am Leben anderer so teilzunehmen, als sei es ein Moment des eigenen Lebens.

«Ich stelle in unserer Gesellschaft ein grosses Defizit an Empathie fest», sagt Gospodinov. «Und diese fehlende Fähigkeit zur Empathie halte ich für viel gefährlicher als beispielsweise den Mangel an Öl oder anderen Energiequellen. Es ist bewiesen, dass die Literatur bei den Menschen das Einfühlungsvermögen fördert. Wenn wir die Geschichten von anderen hören, dann fällt es uns hinterher schwer, uns ihnen gegenüber schlecht zu verhalten. Geschichten verhindern sozusagen, dass wir anderen wehtun, dass wir sie schlagen, beschimpfen oder sogar töten. Schon Scheherazade hatte das begriffen. Ich wünschte mir, dass die Politiker heute das auch begreifen würden. Es wäre wichtig, dass die Politiker heutzutage etwas mehr Bücher läsen.»

Empathie ist also nicht nur in der Literatur elementar, für Georgi Gospodinov ist die Empathie Grundvoraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft.

Die Empathie schwindet

Als dem kleinen Georgi im Laufe seines Erwachsenwerdens jedoch die Fähigkeit zur Empathie immer mehr abhandenkommt, versucht er, dieses Defizit auszugleichen, indem er Geschichten sammelt. Und genau das tut auch das Buch: «Physik der Schwermut» ist ein Buch, das wie eine Zeitkapsel funktioniert. Es ist wie ein Karton, den man zufällig auf dem Dachboden gefunden hat. Man greift hinein – und zieht Wunderbares und Überraschendes heraus.

Buchhinweis

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Georgi Gospodinov: «Physik der Schwermut». Droschl, 2014.

Zum Beispiel die Geschichte von Georgis Grossvater, der im 1. Weltkrieg von seiner Mutter an einer Mühle alleingelassen wird. Sie fährt mit ihren sieben Töchtern auf dem Wagen nach Hause, in der Hoffnung, einen Jungen werde man schon aufnehmen in diesen schweren Zeiten. Die Mutter, die das eigene Kind im Stich lässt – dieses Motiv scheint immer wieder auf in «Physik der Schwermut». So auch bei dem kleinen Georgi selbst, dessen Lebenssituation sehr ähnlich ist zu der des Autors Georgi Gospodinov.

«Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Kindheit», sagt Gospodinov. «Wir wohnten mit meinen Eltern im Souterrain eines Wohnhauses und ich konnte durch das Fenster nur die Füsse und Beine der vorbeieilenden Passanten sehen. Meine Eltern arbeiteten den ganzen Tag und am Nachmittag sass ich am Fenster, beobachtete die Leute und versuchte, mir Geschichten auszudenken.»

Schwermütige Geschichten

Diese Geschichten und die Geschichten, die er im Laufe der Zeit selber sammelte, hat Georgi Gospodinov nun in «Physik der Schwermut» zusammengetragen und ergänzt mit Listen, feuilletonistischen Schnipseln, Motiven aus der griechischen Mythologie und Anekdoten – alle motivisch miteinander verbunden über das Gefühl der Schwermut.

Dabei ist der Roman so spielerisch-ironisch, dass man ihn mit einem lachenden und einem weinenden Auge liest. Georgi Gospodinov setzt so absurd und komisch Geschichten und Reflexionen über das Leben zusammen, dass man immer wieder leer schluckt – obwohl man vielleicht gern lachen würde.

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