Im Zentrum des Romans «Der erste Horizont meines Lebens» steht die zwölfjährige Christina. Ihr Vater arbeitet in Sibirien, die Mutter in Italien. Beide kommen nur gelegentlich nach Hause. Christina sorgt allein für ihre zwei jüngeren Brüder.
Morgens gehen die drei Kinder zur Schule, mittags essen sie, was Christina kocht, nachmittags spielen sie mit anderen Kindern, vor dem Zubettgehen liest Christina ihren Brüdern etwas vor. So weit, so gut. Aber dann, aus Angst vor Einbrechern, verriegeln die Kinder das Haus, verstecken Stöcke unter dem Bett, um sich notfalls verteidigen zu können: «Wir gehören niemandem», stellt Christina fest.
Eine Mutter basteln
Die Zwölfjährige trägt eine riesige Verantwortung: «Nur ich allein mache in diesem Haus sauber, ich fege, wasche auf allen Vieren den Fussboden, arbeite, bis mir die Zunge raushängt, anstatt auch mal zu spielen, fernzusehen oder etwas für Zwölfjährige Empfohlenes zu lesen.»
Christina lässt nichts unversucht, um ihren Brüdern das Leben leichter zu machen, bastelt dem Jüngeren sogar eine Mutter. Oder verwöhnt sie mit Spielsachen vom Geld, das die Eltern nach Hause schicken. Aber sie sagt auch: «Es wäre doch besser mit Mama und ohne Spielsachen.»
Weinen nach Programm
Ihren Brüdern gegenüber zeigt sich Christina stark: «Wir machen ein Programm. Die Zeit zum Weinen: acht Uhr abends. Es ist besser so. Wie wäre es denn, wenn ich genau dann weinen würde, wenn ihr Hunger habt? Oder wenn die Hühner und das andere Viehzeug kein Wasser haben. […] Als wäre Euer Weinen das Wichtigste auf der Welt. […] Als ich gesagt hatte, wir würden nach Programm weinen, habe ich es wieder vergessen, aber Marcel kam eines Abends um Punkt acht Uhr mit den Fotografien von Vater und Mutter, stellte sie genau in dem Augenblick vor uns hin, als ein Film beginnen sollte, und sagte: Lasst uns weinen, es ist acht Uhr!»
Christina vermag für sich selbst Oasen zu schaffen: Sie kümmert sich hingebungsvoll um Tiere oder macht eine Wanderung in die Hügel ausserhalb des Dorfes. Wie jedes junge Mädchen träumt sie von der ersten Liebe oder verliert sich im Spiel mit Freundinnen. In diesem Sinne endet der Roman auch auf einer versöhnlichen Note: Der im Titel erwähnte «erste Horizont» bezieht sich auf die erste Etappe in Christinas Leben, auf den schwierigen und beschwerlichen Alltag. Aber den Lesern ist klar: Sie wird noch viele weitere Horizonte erobern.
Schrei in die Welt
Christina ist keinem realen Vorbild entsprungen. Trotzdem schreibt die 40-jährige Autorin Liliana Corobca – selbst in einem glücklichen Elternhaus aufgewachsen – aus eigener Erfahrung. Sie stammt aus einem kleinen moldawischen Dorf mit etwa 2000 Einwohnern, und in fast jeder Familie dort arbeitet mindestens ein Elternteil im Ausland. Ihr Roman sei wie ein Schrei, sagt Liliana Corobca im persönlichen Gespräch, die Welt solle endlich von der schwierigen Situation von vielen moldawischen Kindern Kenntnis nehmen.
Und dann erzählt sie von Kindern, die mit niemandem spielen wollen, aus Angst, sie könnten den Weggang ihrer Eltern verpassen. Aber, sagt die Autorin weiter, in ihrem Roman sei es ihr wichtig gewesen, auch das Gute und Schöne zu zeigen. Deshalb wohl ist Christina eine starke, tapfere Mädchenfigur. Wohl auch deshalb erzählt «Der erste Horizont meines Lebens» nicht nur von seelischen Schmerzen, sondern auch von grosser Selbständigkeit und innerer Stärke.