Als bei uns noch alles grau in grau war, der Mann der Frau sagte, wo es langgeht und das Alltagsleben in biederem Puritanismus verpackt war, trat in New York eine jüdische Frau mit Wurzeln in der Ukraine auf den Plan. Sie schlug in ihren wundersam leichten Beziehungsgeschichten einen neuen Ton an. Einen herzerfrischend frechen und schrillen Ton.
In den 1950ern war Grace Paley eine einsame, schreibende Mutter mit zwei Kindern. Diesem Erfahrungsraum mit tobenden Kindern und verstockten Ehemännern hat sie erstaunlich viel Poesie abgerungen. Denn Paley hat als Lyrikerin gelernt, wie man das scheinbar Kleine grösser macht.
Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin der ersten Stunde
Grace Paley kämpfte jahrzehntelang für mehr Frauenrechte und gegen die atomare Aufrüstung. Sie reiste sogar in die Höhle des nordvietnamesischen Löwen, um in Hanoi ihre politischen Anliegen um Frieden zu vertreten. 1978 wurde sie inhaftiert, weil sie ein Anti-Atomstrom-Transparent vor dem weissen Haus postiert hatte. Als Schriftstellerin stand Paley in den USA stets im Schatten von Philip Roth, der mit der umfangreicheren Form des Romans eine stärkere Präsenz im Literaturbetrieb hatte, als Paley mit ihren Gedichten und Storys. Zu Unrecht, wie sich rückblickend feststellen lässt.
Plus und Minus im Geschlechterkampf
Die meisten dieser Kurzgeschichten, die in «Die kleinen Widrigkeiten des Lebens» versammelt sind, haben kaum Patina angesetzt. Sie strahlen in alter Frische. Paleys Dramaturgie setzt zu Beginn der Geschichten ohne Umschweife im Kern der Sache ein. Meist angeln sich Frauen gegen alle Widerstände doch noch ihren Herzensmann.
Wie Rosie Lieber in «Auf Wiedersehen und viel Glück». Sie erzählt aus ihrer Blütezeit vor Jahren. Damals war sie Kassiererin in einem jiddischen Theater in der Bronx. Der Starschauspieler des Hauses interessierte sich für die aufgeweckte Rosie. Der Schauspieler Vlashkin drehte in der Folge noch eine lange Ehrenrunde mit seiner angetrauten Ehefrau. Nach der Scheidung landete er aber sicher in den Armen von Rosie, die den spätberufenen keineswegs verschmähte.
Ein Schäferstündchen mit dem Ex
In «Der zartrosa Braten» begegnet Anna ihrem Ex-Mann im Park und nimmt ihn gleich für ein Schäferstündchen mit in die Wohnung. Eine Etappe später, als er vom Bett aufgestanden ist, erfährt er, dass Anna frisch verheiratet ist. Also zieht Peter begossen wie ein Pudel von dannen. Zur Selbstregulierung schlägt Peter, als er wieder auf der Strasse steht, ein paar Räder. Solche absolut überraschenden Schlüsse sind ein besonders wirkungsvolles Stilelement Paleys.
Auch in der Erzählung «Die lauteste Stimme», in der die jüdische Schülerin Shirley Abramowitz dank ihrem kräftigen Organ im Weihnachtsspiel mitwirkt, ist das so. Da betet Shirley am Schluss vor dem Einschlafen «für all die einsamen Christen». Und Paley setzt als Schlusspointe noch einen drauf – sie legt Shirley den Satz in den Mund: «Ich war überzeugt, dass ich gehört wurde».
Kunstvolle Variante des Sprechens
Paleys Dialoge sitzen, wie wenn sie für die Bühne geschrieben worden wären. Sprachspiele perlen durch die Sätze. Zwischentöne schaffen Resonanzräume, die viel tiefer gehen als die Alltagsbeobachtungen in den multikulturellen Einwanderermilieus in der Bronx, im Village oder der Lower Eastside. Und schliesslich sind diese Erzählungen reichlich mit Diamanten durchsetzt, wie: «Sie sah, wie sich auf meinem Gesicht die Traurigkeit weltweit ausbreitete.» Das sitzt wie ein Massanzug.