Paul Nizon und Philippe Jaccottet heissen die Träger des Grand Prix Literatur 2014 – neben dem Schweizer Buchpreis die wichtigste Literaturauszeichnung hierzulande. Sie haben die mit je 40'000 Franken dotierten Gesamtwerkpreise am Donnerstag in der Schweizer Nationalbibliothek in Bern erhalten. Der Spezialpreis Übersetzung geht an den 59-jährigen Obwaldner Christoph Ferber. Er übersetzt seit den 80er-Jahren hautsächlich Lyrik und lebt auf Sizilien.
Der Zufall wollte es, dass die zum zweiten Mal verliehenen grossen Schweizer Literaturpreise des Bundesamts für Kultur (BAK) beide nach Frankreich gehen – Jaccottet lebt seit 1953 in Südfrankreich, Nizon seit 1977 in Paris. Beide erhielten in ihrer Laufbahn schon namhafte Auszeichnungen.
Überraschend ist: Jaccottet hatte 2010 bereits den Schiller-Preis – den Vorläufer des heutigen Preises – gewonnen. Gemäss Jury ist Jacottets Werk dermassen herausragend, dass es gerechtfertigt sei, einen Autor ausnahmsweise zum zweiten Mal aufs Podest zu hieven.
Philippe Jaccottet, der einzigartige Dichter
Der Westschweizer Philippe Jaccottet gilt als einer der bedeutendsten Dichter unserer Zeit. Sein Werk ist in über 30 Sprachen übersetzt worden. Aber er lässt sich keiner Schule zuordnen. Jaccotet ist einzigartig.
Jaccottet ist in Lausanne geboren und aufgewachsen. Später lebte er in Paris, kehrte der Stadt aber bald den Rücken. Seit über 60 Jahren lebt Jaccottet im Dorf Grignan im südfranzösischen Département Drôme.
Der Autor macht sich rar im Literaturbetrieb. Deshalb hat er Atem für die Kontemplation der Natur, der Quelle seiner Poesie. Der heute 88-jährige Jaccottet war von seinem ersten Tag an verzaubert von der französischen Naturschönheit der Drôme. In hochkonzentrierten Sentenzen und Prosastücken sammelt er, was diese Natur den Sinnen bietet. Und wie sie auch abweisend sein kann:
Blindschleiche, hurtig wie Wasser,
schneller entwischt als ein heimlicher Blick,
Blindschleiche kühler Lippen.
Jaccottet schafft neue Perspektiven
Beiträge zu Philippe Jaccottet
Jaccottet spielt auf der ganzen Klaviatur dessen, was sich dem Auge darbietet. In wechselnden Variationen mischt er wie ein Maler auf seiner Palette im Gedicht die Farben zu neuen Kombinationen. Und er kommt auf diese Weise – seine eigene Arbeit reflektierend – auf eine eigene Farbenlehre:
Grün und weiss: Farben des Glücks unter allen Farben, aber näher an der Natur als die anderen; ländliche Farben, weniger stumpf als zurückhaltend, Farben, die eher friedlich wirken, beruhigend...
Was der Autor sammelt und neu arrangiert ist quasi durchsichtig. Hinter der Textur auf dem Papier scheint oft noch eine andere Wirklichkeit auf. Es stellt sich eine überraschende neue Perspektive ein. Die Lektüre erfährt so etwas Meditatives:
Welcher Glut entkamen diese Hornissen?
Wenn meine Gedanken brennen, weiss ich warum.
Jaccottet bezeichnete sich einmal als Diener des Sichtbaren. Man könnte dies ohne Weiteres ins Gegenteil erweitern. Er ist auch ein Diener des Unsichtbaren. Er holt das aus der Beobachtung, was uns Verborgen bleibt. Er erzählt von einer Welt, deren Reichtum und Mannigfaltigkeit uns erst in seinen Wortschöpfungen zugänglich wird.
Der frisch gekürte Träger des Grand Prix Literatur ist übrigens auch ein hervorragender Übersetzer aus fünf Sprachen. Unter den von ihm übersetzten Autoren sind Grössen wie Rilke, Musil, Mann und Ingeborg Bachmann. Auch in dieser Domäne können ihm nicht viele das Wasser reichen.
Paul Nizon, der literarische Aussenseiter
Wen er liebte, wen er hasste, seine Lebensorte – all das machte Paul Nizon zu Sprache. Sein Name ist aber vor allem verbunden mit dem Essay «Diskurs in der Enge». Dieser hat bis heute überlebt.
Fragt man den 84-jährigen Nizon, ob er am Schreibtisch sterben wolle, antwortet er: «unbedingt». Seit Jahrzehnten kämpft er sich «als Schreibsoldat» zum Kern seines Wesens voran. Er gilt immer noch als literarischer Aussenseiter, weil seine Bücher keine hohen Auflagen erzielen.
Nizon polarisiert auch die Kritik. Die einen werfen ihm vor, ein unpolitischer und allzu ich-bezogener Schriftsteller zu sein. Andere bewundern seine ungebrochene Neugier und poetische Schaffenskraft. Nizon selbst spricht vom «am Schreiben gehen».
Ein Essay mit Folgen
1970 erschien Nizons Streitschrift zur Kunst- und Kulturszene in der Schweiz: «Diskurs in der Enge». Es ist eine Auseinandersetzung mit einer sich nach aussen abschottenden Schweiz. «Diskurs in der Enge» ist inzwischen zum geflügelten Wort geworden. Und das Diktum hat auch auf die Kulturpolitik ausgestrahlt.
Nizon interessierte sich für die «künstlerischen Energien», wie er es damals nannte. Es ging ihm um die limitierten Möglichkeiten, diese Energien in der Schweiz zu entfalten.
Beiträge zu Paul Nizon
Das Land wurde ihm persönlich so eng, dass er 1977 nach Paris umzog, wo er bis heute lebt. Nizon spricht von der «Selbstbezogenheit und Weltablehnung», die er als typisch helvetisch erachtet. «Die Schweiz habe diese Isolierung bewusst gepflegt und kultiviert», wie Nizon 2011 im Schweizer Fernsehen sagte.
Der Diskurs ist älter als Nizons Streitschrift
Von der «Sehnsucht nach Welt» hatte 1946 schon Max Frisch in seinem Tagebuch geschrieben. Frisch wünschte sich «Wolken über dem offenen Meer.» Schnell jedoch verkam Nizons «Diskurs in der Enge» auch zum wohlfeilen Schlagwort. Wer etwas auf sich hielt, stellte die Symptome bei sich selbst fest.
Im übrigen hat sich laut Nizon die Einigelung der Schweiz heute überholt. Und zwar wegen der Globalisierung. Der Künstler meint nämlich, dass wir Schweizer ohne Absicht «Weltbürger» geworden seien. Wir seien mit allem verhängt, ob uns dies passe oder nicht. Nizons Fazit: «Die Schweiz wird von der Welt gefressen.»