Den Grand Prix Literatur bekommen Autoren, die auf ein bedeutendes Lebenswerk zurückschauen können. Im Unterschied zum Schweizer Buchpreis wird diese Auszeichnung an Literaturschaffende aus allen vier Sprachregionen der Schweiz verliehen. 2014 hiessen die Preisgekrönten Paul Nizon und Philippe Jaccottet, 2015 war es Adolf Muschg. Nun also Alberto Nessi.
Aus einfachen Verhältnissen
Letztes Jahr wurde Nessi 75 Jahre alt. In Chiasso aufgewachsen, lebt er heute im Muggiotal oberhalb von Mendrisio, einem Grenzgebiet zu Italien. Zu Nessis Jugendzeit war das ein lieblicher Ort, der heute vernutzt ist durch Autobahnen und Einkaufszentren.
Alberto Nessi stammt aus einfachen Verhältnissen. Seine Mutter arbeitete in einer Tabakfabrik, der Vater war Angestellter in einer Speditionsfirma. Von ihnen lernte er, Geschichten zu erzählen: Es sind Geschichten über sogenannte kleine Leute, gegen deren Vergessen Nessi anschreibt. Es geht um Fluchthelfer und Schmuggler, um Fabrikarbeiterinnen, Heimkehrer aus dem spanischen Bürgerkrieg, um Banditen, Fussballspieler, Revolutionäre.
Ehrlich, einfach, klar
Jurymitglied Pietro de Marchi begründet die Wahl von Alberto Nessis: «Er ist seiner Vorstellung von Literatur stets treu geblieben; machte bei keiner Modeströmung mit. Sein Werk ist ehrlich, einfach, klar und zugleich reich an Wissen und literarischem Tiefgang.»
Die Worte müssten tanzen, sagt Nessi – und die Bilder Feuer haben: «Die Poesie ist die Tochter der Spannung und des Staunens.» Ästhetik und Ethik hängen für Alberto Nessi zusammen: «Schönheit in der Kunst kann Gutes in der Gesellschaft bewirken. Es gibt eine innere Schönheit, eine Schönheit beim Betrachten der Dinge, und die hinterlässt Spuren beim Leser. Das treibt mich an bei der literarischen Arbeit.»
Authentizität durch Detailbeobachtungen
Nessi ist ein Meister des Unausgesprochenen. «Ich heisse José, bin 31 Jahre alt und Buchhändler in Lissabon. Ich bin lungenkrank und will die Welt verändern» – so beginnt sein Roman «Nächste Woche, vielleicht». Wenige Zeilen nur, schon ist das Thema des Buches lanciert. Protagonist des historischen Romans ist ein Emigrant aus dem Muggiotal, der in Lissabon die sozialistische Partei mitgründete. Ein Platz in Lissabon ist nach José Fontana benannt.
Nessi erweist sich als Menschen- und Geschichtensucher. Als Autor, der dem Volk aufs Maul schaut, dessen Erzählungen durch scheinbar unwichtige Detailbeobachtungen besonders authentisch wirken.
Brücken bauen im gespaltenen Tessin
Nessi ist ein politischer Mensch. Als Figur des öffentlichen Lebens bezieht er Stellung. Er will Brücken bauen im gespaltenen Kanton Tessin, wo die politische Rechte Grenzmauern fordert. Nessi zählt zu jenen, die für eine Öffnung plädieren.
Beitrag zum Thema
Für das deutschsprachige Lesepublikum ist Alberto Nessi kein Unbekannter. Neun seiner Bücher sind beim Zürcher Limmatverlag in deutscher Sprache lieferbar. Diese Woche erscheint sein Erzählband Milò.
Mit dem Grand Prix Literatur wird nicht nur das Lebenswerk von Alberto Nessi ausgezeichnet. Die Anerkennung gilt indirekt auch Nessis Übersetzerinnen und Übersetzern sowie dem Limmatverlag, der sich als Brückenbauer zwischen Schweizer Landessprachen stark engagiert.