Als ich von seinem Tod erfuhr, war ich fassungslos. Dabei kannte ich ihn persönlich gar nicht, nur seine Filme – diese eindringlichen Beschreibungen einer Welt, die ich so noch nie gesehen hatte. Sein Tod schockierte mich, weil Michael Glawogger starb, als er sich einen Traum verwirklichte.
Er starb bei Dreharbeiten für seinen Film «Untitled – Film ohne Namen», ein Projekt, für das er jahrelang gekämpft hatte. Er wollte mit einem Kamera- und einem Tonmann ein Jahr lang um die Welt reisen – und drehen. Ohne sich von einem Thema einschränken zu lassen, darauf wartend, dass der Zufall die Bilder und die Geschichten liefert.
Ein Film ohne Namen und ohne Ziel
«Die grösste Herausforderung für jeden Künstler ist es, die Leere zu bezwingen – mit Linien, Farben, Tränen oder Worten», schrieb Michael Glawogger über dieses Projekt. «Dieser Film soll ein Bild der Welt entstehen lassen, wie es nur gemacht werden kann, wenn man keinem Thema nachgeht, keine Wertung sucht und kein Ziel verfolgt. Wenn man sich von nichts treiben lässt ausser der eigenen Neugier und Intuition.»
Und ausgerechnet während dieser Arbeit starb er. An Malaria. Gestochen von einer Mücke im afrikanischen Liberia.
Ein literarisches Vermächtnis?
Als ich von seinem Tod erfuhr, dachte ich, das hat jemand erfunden. Das kann nicht sein. Ein Jahr später, beim Lesen seiner «69 Hotelzimmer», denke ich oft an diesen Moment. Wenn er in seinen kurzen Geschichten die Wirklichkeit scheinbar verlässt, weil sein Blick etwas entdeckt, das so erstaunlich ist, so skurril, so unwirklich manchmal – dass es mich die Welt neu entdecken lässt.
«69 Hotelzimmer» ist ein Roman über einen Reisenden. Michael Glawogger nennt ihn einfach «Er». Er reist in 95 Hotelzimmer (ein Zahlenspiel mit dem Titel «69 Hotelzimmer»). Nach Prizren im Kosovo, Battambang in Kambodscha, zu seinem Geburtsort Graz, nach Bujumbura in Burundi …
Der Blick aus dem Hotelzimmer
Von jedem Hotelzimmer aus blickt er in die Welt davor, mit dem Entdeckerauge eines Dokumentarfilmers. «Die grossen Bilder fliessen diesmal nicht von der Leinwand, sondern vom Papier» schreibt die Schriftstellerin Eva Menasse in ihrem berührenden Nachwort über Michael Glawogger. Gemeinsam mit Andrea Glawogger, seiner Frau, hat sie die Texte redigiert.
Man könnte jede der 95 Episoden zitieren – in jeder entdeckt man Fremdes. Und die Faszination des Fremden. Gleich das erste Zimmer in Reynosa, Mexiko, das der Drogenmafia gehört, ist «nur eine Übergangslösung, um in die Welt zu gelangen.» Draussen hört man das Zischen von Schüssen. Eine kleine Strasse führt zu einer Brücke, auf der es dauernd zu Scharmützeln zwischen Militärs und Mafia kommt.
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Auf dieser Brücke steht ein Auto, darin eine hübsche Frau, die wartet. «Worauf wartet sie?» fragt Michael Glawoggers «Er» einen Kellner. Sie warte auf Carlito, ihren Mann. «Schau genau! Dann wirst Du ihn sehen», sagt der Kellner, worauf «Er» die baumelnden Beine des an der Brücke erhängten Carlito entdeckt. Direkt unter dem Auto, im dem seine Frau wartet.
Der Glawogger-Blick
Da ist er wieder, denke ich. Dieser Glawogger-Blick, der mir die Welt zeigt, wie ich sie noch nie gesehen habe. Und natürlich kommen mir seine Filme in den Sinn – die Bilder von «Workingman's Death» (2005), als er Schwerstarbeit im 21. Jahrhundert filmte. Enge Kohleminen in der Ukraine, Schwefelabbau in Indonesien, ein Schlachthof in Nigeria.
Oder «Whores' Glory» (2011) – ein Film, der Prostituierte in Thailand, Bangladesch und Mexiko porträtiert, ihnen nahe kommt, ihre Welten zeigt, wie – ich wiederhole mich – man es noch nie gesehen hat und auch nicht ahnte, dass es diese Welten gibt.
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Raum und Zeit für Geschichten
Dabei waren diese Filme keine Schnellschüsse, wie man sie im Fernsehen ab und an sehen kann. Von dieser Form des dokumentarischen Arbeitens hat sich Glawogger immer distanziert. Er gibt den Menschen, den Bildern, den Situationen und Geschichten Raum. Und Zeit.
Während der Dreharbeiten zu diesen Dokumentarfilmen, als er alles, was ihm sonst noch auf Reisen begegnete, seiner Filmidee im Kopf unterordnen musste, reifte die Idee zum «Film ohne Namen» – seinem letzten Projekt, das er vor über einem Jahr zu realisieren begann. Als ich von seinem Tod erfuhr, dachte ich nur, das kann nicht sein. Da erfüllt sich jemand einen Traum, und dann ...