Peter Härtling versucht – am Beispiel des kreativen Komponisten Verdi – literarisch einen neuen Weg zu gehen. Der Roman «Verdi» ist ein «Roman in neun Fantasien», wie es im Untertitel heisst. Er setzt kurz nach der Uraufführung der «Aida» ein. Giuseppe Verdi, damals Ende fünfzig, fühlt sich erschöpft, sucht Ruhe auf seinem Landgut Sant‘Agata in der Nähe von Mantua am Po.
Aber er ist ein rastloser Mensch, braucht die künstlerische Herausforderung, kann das Arbeiten nicht lassen und bestellt bei seinem Verleger die Noten von Haydns Streichquartetten.
Er will die Partituren studieren, um sich erstmals – nach all den Opern – an die Kammermusik zu wagen. So komponiert er sein erstes Streichquartett in e-Moll, lässt es heimlich von vier Musikern einstudieren – und lädt Freunde und Bekannte zu einem Anlass in die Hotelhalle in Venedig. Erst am Abend selber realisieren die Gäste, dass sie hier einer Uraufführung des Maestro beiwohnen.
So überrascht Giuseppe Verdi im Alter immer wieder mit neuen kreativen Ideen: Er schreibt zum Tode seines Dichter-Freundes Alessandro Manzoni ein Requiem, lässt sich von seinem jungen Librettisten Arrigo Boito überzeugen, die Oper «Otello» zu komponieren; sechs Jahre später – mit 80 Jahren – folgt noch die Oper «Falstaff».
Der Sprung im Alter
Dieser Hunger Verdis, sich künstlerisch immer wieder neu zu erfinden, hat Peter Härtling fasziniert. Der Schriftsteller war in jüngeren Jahren Programmleiter des S. Fischer-Verlags gewesen. In dieser Funktion gab er damals den Briefwechsel zwischen Giuseppe Verdi und Arrigo Boito heraus.
Diese Korrespondenz habe ihn nie mehr losgelassen, erinnert sich Peter Härtling. Er habe darin erkannt, wie anregend der junge Boito für den alten Verdi gewesen sei. Boito habe Verdi das Libretto von «Otello» gebracht, in einer völlig anderen Ton- und Sprachart, «und da begreift Verdi: Das ist der Sprung, den ich wagen muss».
Und genau um diesen Sprung sei es ihm gegangen, sagt der Schriftsteller: «Es ist der Sprung, den ich selber im Alter machen möchte, indem ich für mich eine neue Tonart erfinde.» Dabei diente ihm Verdi – wie er es nennt – «als Spiegel, als Pate, als geistiger Bruder. Dieses Wagen-Können ist ein Geschenk, das man im Alter bewahren muss.»
Keine Biografie
So gesehen ist dieser neue Roman für Peter Härtling selber ein Experiment, ein Wagnis. Keine Biografie sollte es werden, sondern «ein Austausch an Erfahrungen», erwähnt der Autor in einer «Kopfnote» am Anfang des Romans. Verdi sei zwar unantastbar in seinem Ruhm, «aber er ist mir nah in seinen Schwächen und in seiner Furcht, aus der Fantasie zu stürzen, das Handwerk nicht mehr zu können.»
Sendungen zum Thema
Auch wenn Härtling Verdis Leben nicht einfach nacherzählt, hält er sich an die Fakten. Er bereiste Verdis Stationen, vertiefte sich in die reiche Verdi-Literatur und trat mit ihm in einen fiktiven Dialog. Gerade da, wo er sich selber in die Erzählung einbringt, berührt der Roman am stärksten. Eindrücklich ist auch Härtlings sorgfältiger Umgang mit Sprache, der – passend zum Thema – zuweilen selber an eine musikalische Komposition erinnert.
Ein Kind geblieben
Die Auseinandersetzung mit dem kreativen Genie habe ihn beglückt, sagt Peter Härtling, und ihm auch eine grosse Seelenverwandtschaft vor Augen geführt. Zum Beispiel im Umgang mit Zweifeln: «Geht es noch? Schaffe ich es noch?» Aber auch das Wissen um den müden, hinfällig gewordenen Körper und diese Angst im Alter, «dass der Schlaf plötzlich überhand nimmt», verbinde ihn mit dem Italiener.
Sie seien beide – im Grunde genommen – ein Leben lang Kinder geblieben; hätten sich deren Eigenschaft der Zuversicht bewahrt: «Das Wissen: es geht.» Mit diesem Roman hat Peter Härtling bewiesen, dass es geht: dass er immer noch auf der Höhe seines literarischen Schaffens ist.