Johann Gottfried Seume ist zeitlebends ein Getriebener, er ist immer unterwegs, immer auf dem Sprung. Ohne Geld bricht er im Winter 1801 zu Fuss im sächsischen Grimma auf nach Syrakus: «Ich schnallte in Grimme meinen Tornister, und wir gingen». Seinem Begleiter wird es bald zu gefährlich und er kehrt um. Seume geht weiter, fast 6'000 Kilometer bis Syrakus in Sizilien. Zweimal wird er überfallen und ausgeraubt, das Messer am Hals.
Gegenentwurf zu Goethes «Italienischer Reise»
Seume wählt die klassische Route aller Italienliebhaber: über Wien und Venedig, Florenz und Rom, Neapel und Palermo. Aber er sieht weniger «das Land, wo die Zitronen blühen», als die Armut der kleinen Leute. Seume, der Bauernsohn, erzählt von verräucherten Kneipen und zwielichtigen Spelunken, von Ungerechtigkeit und Not. An bedeutenden Stätten der Antike geht er trotzig vorbei:
Spöttisch und selbstbewusst
Das drückt sich auch in der Art des Reisens aus: Goethe fährt in der Kutsche nach Italien – und beschwert sich ständig über die Zumutungen der beschwerlichen Reise. Seume geht die 6‘000 Kilometer zu Fuss und nennt es einen Spaziergang. Und so schreibt er ebenso spöttisch wie selbstbewusst:
Einer, der nirgendwo ankommt
Seume ist einer, der sein Leben wortwörtlich durchlaufen hat: Von seinem Landsherrn wird der hochbegabte Bauerssohn zum Theologiestudium nach Leipzig geschickt. Seume läuft jedoch weg und gerät hessischen Häschern in die Hände. Als zwangsrekrutierter Soldat wird er nach Amerika verschifft. Kaum in Halifax angekommen läuft er wieder weg, wird wieder eingefangen. Dreimal desertiert Seume, ist bereits zum Spiessrutenlaufen verurteilt und kann dann doch wieder weglaufen. Dieser Seume war keiner, der irgendwo ankommt, sondern immer einer, der weggeht.
«Ein Losschreiten und Fortrennen in Worten und Sätzen»
Für Bruno Preisendorfer, der ein neues, erfrischendes Buch über Seume geschrieben hat, ist diese Ruhelosigkeit stilbildend für Leben und Werk: «Den Schriftsteller Seume gäbe es nicht, wäre der Mensch Seume nicht immer auf dem Sprung gewesen», erklärt Preisendorfer. Er wäre kein Soldat geworden, wäre er als Student in Leipzig geblieben; und er wäre nicht der «Spaziergänger nach Syrakus» geworden, hätte er als Lektor in Grimma ausgeharrt.
«Das Buch, das ihm bis heute das literarische Überleben sichert, ist ein Losschreiten und Fortrennen in Worten und Sätzen, als würde beim Schreiben das Blatt brennen, so wie beim Wandern der Boden unter den Füssen gebrannt zu haben scheint.»
Seume stirbt am 13. Juni 1810 in Teplitz, Böhmen. Bruno Preisendorfer schreibt über sein Ende: «Es ist ein böser Zug des Schicksals, den vielgereisten Seume, dessen erstes grosses Abenteuer mit der Verschiffung nach Halifax begann, am Ende zum Sterben ins Gasthaus Goldenes Schiff zu legen.»
Inspiration für Hohler und Walser
«Der Spaziergang nach Syrakus» ist Seumes bestes Buch und das einzige, das seinen Nachruhm begründet. Sein Spaziergang inspiriert bis heute Nachahmer, vom einsamen Spaziergänger Robert Walser bis zu Franz Hohler, der auf seinen «Spaziergängen» vor der Haustür Neues in der Schweiz entdeckt.
«Der Spaziergang nach Syrakus» ist das Buch eines Mannes, der die Welt erfahren hat, indem er sie durchlief. Ein lohnendes Buch, gerade für uns, die wir heute im Fitnessstudio auf einem Laufband stehen und auf die virtuelle Welt eines Monitors schauen.