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Frisch mit Brille und Pfeife neben seiner Frau in einem Bahnwagen.
Legende: Max Frisch mit seiner zweiten Frau Marianne bei einem Ausflug nach Ost-Berlin 1973. Judith Macheiner/Max Frisch-Archiv, Zürich

Literatur «Ich schreibe, um zuhause zu sein» – Neues von Max Frisch

Über Jahrzehnte war es bloss Legende. Jetzt, nach 40 Jahren, ist es in Teilen erstmals nachzulesen: das «Berliner Journal», das der Schweizer Schriftsteller 1973/74 geführt hat. Ein literarisches Ereignis, das helles Licht auf diese Lebensphase Max Frischs und ihren historischen Hintergrund wirft.

Aus Rücksicht auf die Beteiligten hat Max Frisch sein «Berliner Journal» bis 20 Jahre nach seinem Tod gesperrt. Nun offenbaren die – um persönlichkeitsrechtlich heikle Passagen amputierten – Auszüge die aus Frischs beispiellosen Tagebüchern I (1946-49) und II (1966-71) bekannten Qualitäten: Dichte und luzide Beschreibung von Persönlichem und Gesellschaftlichem, schonungslose (Selbst-) Befragung der aktuellen Lebensverhältnisse und fiktive Skizzen, in denen Erfahrungen in Literatur verwandelt werden.

Ein Versuch mit Berlin

Im Zentrum der jetzt vorliegenden Notate von Max Frisch stehen scharfsinnige Beobachtungen seiner Umgebung und seiner selbst, formuliert in der sein Schreiben stets kennzeichnenden Knappheit und verknüpft mit existentieller und politischer Reflexion ebenso wie mit fiktionalen Versuchen (zum Beispiel über Zürich als geteilte Stadt wie seinerzeit Berlin).

Buchhinweis

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Max Frisch: «Aus dem Berliner Journal», hrsg. von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margrit Unser. Suhrkamp 2013.

Die Aufzeichnungen setzen ein im Februar 1973: Max Frisch ist mit seiner 28 Jahre jüngeren, zweiten Frau Marianne eben in eine Wohnung in West-Berlin gezogen. Nach Jahren in Berzona, Küsnacht und New York ein «Versuch mit Berlin», die Wohnung steht im fast dörflichen Viertel Friedenau, wo viele Literaten siedeln. Nachbarn und Freunde sind etwa Günter Grass und Uwe Johnson, Frisch hat sofort auch Kontakt zur Literaturszene im Osten.

In der Krise

Max Frisch geht es nicht besonders gut. Der 62-jährige Erfolgsschriftsteller staunt über seine «horrenden Auflagen» und ermisst seinen Wohlstand als soziale Verpflichtung. Frisch erschrickt über dem «Bewusstsein, dass ich noch drei oder vier Jahre habe, brauchbare Jahre», er leidet am scheinbar nachlassenden Kurzzeitgedächtnis, an Langeweile: «Wenn es zu Erfahrungen kommt, so nur noch durch Schreiben.»

Die Ehe kriselt, trotz mancher leichter Momente sieht sich Frisch im Spiegel als «verfetteten Alten», als eine «groteske Zumutung» für die 35-jährige Marianne. Er vermisst ein zündendes literarisches Projekt – das Journal gilt ihm nicht als solches. Grossartig fasst er seine Lage in einem poetischen Bild zusammen: «Der Wärter in einem Leuchtturm, der nicht mehr in Betrieb ist; er notiert sich die durchfahrenden Schiffe, da er nicht weiss, was er sonst tun soll.»

Beiträge zu Max Frisch

Arbeit am späten Meisterwerk

Dennoch ist ihm am Schreibtisch am wohlsten: «Ich weiss jetzt, dass ich nicht schreibe, weil ich andern irgendetwas zu sagen habe (...). Ich schreibe, um zu arbeiten. Ich schreibe, um zuhause zu sein.» Er ringt mit einer Erzählung, die das Onsernone-Tal und einen alternden Mann zum Gegenstand hat, schreibt Fassung um Fassung dessen, was dann 1979 als sein spätes Meisterwerk «Der Mensch erscheint im Holozän» erscheinen wird.

Dabei ist er durchaus produktiv: Das «Dienstbüchlein» steht vor der Drucklegung, dazu bereitet er die berühmt gewordene, so brillante wie kritische Rede «Schweiz als Heimat?» vor. Doch sucht er bewusst Distanz: «Die Heimat beschäftigt mich nicht, weder als Objekt der Kritik noch als Objekt privater Erinnerungen.»

Frisch und seine Kollegen

So ergiebig manches Notat als Mosaikstein für die biografische Gesamtsicht des Autors ist, so erhellend unerbittlich dessen Analyse der damals 25-jährigen DDR ausfällt, den literarisch glühenden Kern dieses Buchs bilden Frischs kongeniale, strichgenaue und stilistisch kaum zu übertreffende Porträts bedeutender Kolleginnen und Kollegen.

Grass und Frisch nebeneinander in einem Theatersaal
Legende: Günter Grass und Max Frisch 1977 Keystone

Ihnen begegnet er in der geteilten Stadt mit Neugier und Freundschaft, von Jurek Becker und Wolf Biermann über Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass bis zu Uwe Johnson, Günter Kunert oder Christa und Gerhard Wolf. Das ist bewegend zu lesen und zeitlos aktuell. Allein diese Juwelen rechtfertigen die Veröffentlichung.

Ob die auszugsweise Veröffentlichung, ein Torso, freilich dem Verfasser recht gewesen wäre, scheint fraglich. Frisch hat das Berliner Journal explizit als «Ganzes», als «Einheit» betrachtet: «alles geht ineinander über, ich kann da nicht einfach einen Teil herauslösen (...). Es ist eben kein Sudelheft, sondern ein durchgeschriebenes Buch.» Über diese klare Diktum Frischs hat sich der Stiftungsrat der Max-Frisch-Stiftung hinweggesetzt, ein zwiespältiges Gefühl bleibt.

«Geschichtliches Interesse an der eignen Biographie»

Die Textauswahl endet übrigens im Frühjahr 1974 mit Frischs Aufbruch zu einer Lesereise in die USA, wo er Alice Carey treffen und mit ihr ein Wochenende am Strand von Montauk verbringen wird. Daraus wird er die Anregung für seine schonungslose autobiographische Erzählung gleichen Namens gewinnen.

Die Keimzelle dazu findet sich schon im Journal, wenn Max Frisch konstatiert: «Nachlassen der Erfindungskraft, aber gleichzeitig kommt etwas hinzu…: ein geschichtliches Interesse an der eignen Biographie und an der Biographie anderer, die man zu kennen gemeint hat, ein Interesse an der Faktizität.» Und: «Ich habe mir mein Leben verschwiegen.»

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