Sie haben das Gesamtwerk von Patricia Highsmith auf Deutsch neu herausgegeben. Was denken Sie, warum werden ihre Bücher heute noch so gerne gelesen? Und so oft verfilmt?
Paul Ingendaay: Ihre Bücher, wie die über Ripley, faszinieren auch 60 Jahre nach ihrem Erscheinen. Patricia Highsmith trifft darin Aussagen über unsere Gegenwart, über die Einsamkeit des Menschen. Man könnte sogar sagen, sie ist die kleine Schwester von Kafka.
Ausserdem ist sie, wenn man Stephen King mal ausnimmt, die meist- und bestverfilmte Schriftstellerin der Welt. Das liegt auch daran, dass ihr Werk sehr wortkarg ist – da bleibt Deutungsspielraum.
Der Vergleich mit Kafka ist ein grosses Lob an die Krimi-Autorin.
Ja, das ist ein Lob. Ich würde sie aber nicht als Krimi-Autorin bezeichnen, auch wenn das legitim ist. Ich nenne sie eine grosse Schriftstellerin, weil sie das Genre überstiegen hat.
Es kommt zwar fast immer ein Mord, Schuld und Verdrängen vor, aber eigentlich geht es in ihrem Werk um existentielle Aussagen über die Einsamkeit moderner Menschen, um die Frage nach der Schuld des Einzelnen. Und es ist wie bei Kafka: Man kommt da nicht raus.
Sie haben sich intensiv mit Patricia Highsmith beschäftigt, wollten die Autorin aber nie kennenlernen. Warum?
Ich hatte das Gefühl – aus ihren Büchern und von ihren Selbstaussagen – diese Autorin will niemanden kennenlernen. Niemanden, der nach ihren Büchern fragt und die üblichen Autorengespräche führt. Ich habe das respektiert. Aber ich habe es auch um meiner selbst Willen getan. Ich wollte sie in Ruhe lassen. Und ich glaube, dass sie mir dafür – ohne, dass sie es gewusst hätte – dankbar war.
Die zurückgezogene Autorin hat 8000 Seiten Tagebücher hinterlassen, die bei Diogenes auf dem Programm stehen werden. Sie, die die Autorin eigentlich nicht kennenlernen wollten, haben die Tagebücher gelesen. Ist das nicht eine paradoxe Situation?
Ich hatte das Gefühl, dass ich nachträglich belohnt wurde. Ich durfte mich mit ihrem zum Teil sehr intimen, gequälten, umkämpften Leben beschäftigen, ohne dass es jemand merkte. Ich durfte sie plündern, um die Nachworte für die Werkausgabe zu schreiben. Aber ich äussere mich wenig über die Person. Ich wollte nicht versuchen, sie zu analysieren, sondern nur zu ihrem Werk hinleiten.
Die Tagebücher sind eine Wahnsinns-Lektüre für mich gewesen, sie beschäftigen mich noch heute.
Die Schriftstellerin steht jetzt quasi nackt vor Ihnen. Ist das auch eine Demontage einer grossartigen Autorin?
Sie hat sich immer wieder selbst demontiert. Dem zuzuschauen, ist beeindruckend und auch berührend. Nein, ich habe den allergrössten Respekt vor ihr, gerade weil ich weiss, dass sie kleinlich, geizig und hartherzig sein konnte. Sie war scheu, manchmal brutal im Zusammenleben mit anderen Menschen – deswegen auch dieser Rückzug.
Aber diese Persönlichkeit hat alles für ihr Werk getan, sie hat sich immer wieder bäuerlich über ihr Werk gebeugt und demütig gearbeitet. Ich glaube, sie wird das Werk von Günter Grass und vielen anderen weit überleben. Sie ist eine wichtige Autorin, und sie wird es über viele Jahrzehnte bleiben. Ich verneige mich vor diesem sehr schwierigen Menschen.