Wieder wird von dem einen Jahr erzählt, in dem alles passiert. Nur ein Jahr, 1983, zwei Wochen im Oktober. Carina ist wieder da, die kleine Tochter, die Freundin Sibylle, Pascale und Jürgen und all die anderen, die Namenlosen aus dem Frankfurter Westend.
Ein Jahr, von dem Peter Kurzeck in all seinen Büchern erzählt, alles und zugleich fast nichts. Ein Leben im Stillstand, in dem alles schon vergangen und zugleich Gegenwart ist. Da gibt es den Kinderladen und die zu kleine Wohnung unterm Dach. Sibylles Aushilfsjob im Verlag und den Autor, der seine Stelle im Antiquariat verliert. Und die Freunde, die Auswanderer, die in Südfrankreich ein Lokal betreiben. Der Rest ist Arbeit am Schreibtisch, das tägliche Pensum. Nichts Neues. Nichts passiert.
Warten, reden, erinnern
Oder doch? Panik. Es beginnt mit einer Panikattacke. Sie kommt nachts beim Aufwachen und wirkt wie eine Vorahnung: Sibylle wird weggehen und die kleine Familie wird zerfallen. Das ist das Schlüsselerlebnis dieser Rückreise ins eigene Leben, die Peter Kurzeck in seinem grossen Romanwerk «Das alte Jahrhundert» unternimmt.
Am Beginn dieses Werks steht der Roman «Übers Eis». Trennung ist das Thema. Hier ist es die irgendwie glückliche Zeit davor. Aber eine Trennung gibt es auch hier. Pascale hat Jürgen verlassen, als das Restaurant in der Provence ohne Gäste bleibt und nur die Schulden übrig ist. Jetzt ruft er an in Frankfurt, mehrmals täglich. Kommt er zurück? Auch das gibt diesem Roman Struktur: Warten, Reden, Erinnern. Zwei Wochen im Oktober.
«Mein Plan ist es, mein Zeitalter aufzuschreiben»
Peter Kurzeck ist im November 2013 gestorben. Diesen Roman hat er nicht mehr vollendet. Die furiose Chronik der Erinnerungen ist Fragment. Etwa zur Hälfte ist das Manuskript abgeschlossen, der Rest sind Notizen, die Kurzecks Methode des ständigen Schreibens und Umschreibens gut erkennen lassen.
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Geordnete Anarchie herrscht, die mit Motivverweisen und eigenem Farbsystem arbeitet. «Mein Plan ist es, mein Zeitalter aufzuschreiben», sagt Kurzeck. Er schreibt obsessiv an der Chronik seiner privaten Verhältnisse und gibt zugleich ein Gruppenbild der sozialen Wirklichkeit. Ein Aussenseiter spricht. Paare, Passanten, Migranten, die Bundesrepublik in den 1980er-Jahren.
Time passes slowly
«Im Buch immer Herbst», notiert Kurzeck, als er die Arbeit am Manuskript beginnt. Nur zweihundert Seiten sollten es werden. Etwa das Doppelte wäre es wohl geworden. Platz für all die Varianten und Wiederholungen des Sprechens, die Kurzecks Schreibstil prägen.
Bob Dylan gibt den Sound dieser Zeit: «Time passes slowly». Samstags bei Flohmarktbesuchen am Main liegen seine Platten aus und die der anderen: der Doors, der Beatles, Janis Joplin.
Staatsbürger. Arbeitslos.
Zuhause ist das Telefon Fixpunkt. «Eine Nummer beim Arbeitsamt», schreibt Kurzeck. «Und seither auf Abruf. Staatsbürger. Arbeitslos. Immer das passende Arbeitslosengesicht und eilfertig zusammenzucken, jedesmal wenn das Telefon klingelt oder wenn man denkt, jetzt ist so ein Moment – es könnte gleich klingeln!»
Prekär sind die Lebensverhältnisse des Erzählers, aber er kommt damit zurecht. Eine seltsame Gelassenheit im Verhältnis zur Lage bestimmt das Geschehen. Der Autor erzählt sein Leben, er beklagt es nicht. Er ist unterwegs in der Stadt und in der Zeit. Dieser Roman ist der letzte, den er noch geschrieben hat. Im Nachlass lagert das Material für weitere Bände dieser einzigartigen Chronik der alten Bundesrepublik – das gibt Arbeit für die Herausgeber, auch in Zukunft.
Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 11.2.16, 8:20 Uhr