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Literatur J.M. Coetzees Roman «Die Kindheit Jesu» – ein freudloses Utopia

In «Die Kindheit Jesu» zieht der südafrikanische Literaturnobelpreisträger die Kulissen eines imaginären Landes auf. Dahin wandert der elternlose Knabe David aus und findet einen Ersatzvater und eine Ersatzmutter – die heilige Familie. Ein Stück Literatur, das in erster Linie von Literatur handelt.

J.M. Coetzees Utopia ist geographisch und zeitlich nicht verortet. Man spricht spanisch. Ohne dass dies weiter von Belang wäre. Das Leben ist äusserst spartanisch. Die Menschen sind korrekt aber freudlos. Der Alltag ist grau in grau. Das merkwürdige Land scheint von einer im Dunkeln liegenden Bürokratie gelenkt. Die Einwanderer kommen in einem Empfangszentrum an. Dort erhalten sie neue Namen und werden darauf vorbereitet, sich in diese freudlose Gesellschaft einzugliedern. Unter den Einwanderern: ein fünfjähriger Knabe, der den Namen David erhält. Und Simon, der sein «neuer Vater» wird.

Fluchtpunkt Novilla

Porträt
Legende: J.M. Coetzee hat 2003 den Literaturnobelpreis gewonnen. Keystone

Die Immigranten unbekannter Herkunft und ohne ersichtliche Immigrationsmotive haben eine lange Schifffahrt aus Niemandsländern hinter sich. Im Hafen der Stadt Novilla laufen aber auch Frachter ein. Diese sind mit Tonnen von Getreide beladen. Simon heuert denn auch im Hafen als Scheuermann an. Er findet die neue Mutter des Jungen. Ihr Name ist Ines. Simon hält eisern daran fest, dass sie seine einzige Mutter sei, obwohl sie David gar nicht geboren hat.

Es herrscht grosse Monotonie. Die eintönigen Nahrungsmittel sind billig. Öffentlicher Verkehr und Weiterbildung sind umsonst. Die Menschen in Novillaland scheinen ohne Wünsche auszukommen. Gefühle und Sex meiden sie. Simon versucht, mit zwei verschiedenen Frauen anzubandeln. Blitzt aber ab. Vorgesehen ist das nämlich in Novilla nicht. Die Neuankömmlinge müssen von der Erinnerung und jeglichen Emotionen «reingewaschen» werden. Simon hat mit diesem kleinen Fegefeuer anfänglich Mühe. Schliesslich findet er heraus, dass in diesem spartanischen Land «Therapeutinnen» für Sex zuständig sind.

Allgegenwärtiger Vater Staat

Die Wohlfahrt ist für die Grundversorgung der Bevölkerung zuständig. Es herrscht eine Art karger, grauer Sozialismus in diesem Versorgungsstaat. Ohne Computer und Internet. Also ist diese Gesellschaft offenbar völlig auf sich selbst beschränkt, nicht Teil der übrigen, «normalen» Welt, aus welcher der 5-jährige David mit seinem 45-jährigen Ersatzvater wie Phönix aus der Asche auftaucht. Es gibt zwar Arbeit. Aber nur Getreidesäcke schleppen. Die Menschen in dieser lustlosen Welt verlieren ihre Erinnerung. Das ist Voraussetzung dafür, dass sie künftig kein Bewusstsein mehr ihrer selbst haben. Big Brother behält die Kontrolle über alle.

Messias David

Buchhinweis

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J.M. Coetzee: «Die Kindheit Jesu: Roman.» Verlag S. Fischer, 2013.

Der Roman mit dem kühnen Titel «Die Kindheit Jesu» ist durchsetzt mit religiösen Anspielungen. Der Knabe sagt von sich selbst, streitbar: «Ich bin die Wahrheit». Aber es ist kaum vorstellbar, dass der Autor da einen neuen Messias als Erlöser ins Szene setzt, denn: Was, wenn dieser Roman ironischer zu lesen ist, als man zunächst denkt? David liest eine Kinderausgabe von Cervantes' «Don Quijote». Da ist mehr vom Scheitern als vom Gelingen die Rede. Aber David bezeugt mit dieser Lektüre gerade die Individualität, die in einer Anti-Utopie eigentlich gar nicht vorgesehen ist.

Die Frage nach der Bestimmung des Menschen

Coetzees Coup ist es, dass er seine Figuren überzeichnet. Der südafrikanische Autor und Literaturnobelpreisträger thematisiert in «Die Kindheit Jesu» den fiktionalen Charakter des Romans überdeutlich. Es ist ein Stück Literatur, das in erster Linie von Literatur handelt. Fragen nach der Wirklichkeit der Figuren sind Grundsatzfragen nach der besten aller möglichen Welten. So wirken Romane wie «Die Kindheit Jesu» einerseits etwas spröde. Sie provozieren aber andererseits die kapitalen Fragen nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen.

«Die Kindheit Jesu» ist ein Bildungsroman im klassischen Sinn. Aber er hat wohl gerade darum eine längere Halbwertszeit als stromlinienförmigere Werke.

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