Joel Spazierer ist charmant, gebildet, hübsch und höflich. Ein durch und durch sympathischer Mensch, der nur einen Makel hat: Er bringt Menschen um. Seine frühe Kindheit verbringt er bei seinen Grosseltern in Budapest während der Zeit des stalinistischen Terrors. Doch als er eines Tages aus seinem Mittagsschlaf erwacht, sind seine Grosseltern verschwunden, verhaftet von der Geheimpolizei. Doch das weiss er nicht.
Eine Welt ohne Moral
Der Vierjährige verbringt fünf Tage und vier Nächte allein in der grossen Wohnung, klaubt das Weiche aus dem Brot, das er in der Küche findet, trinkt Leitungswasser und unterhält sich mit den gestickten Tieren auf seiner Wolldecke. Er rechnet nicht damit, dass jemals wieder jemand kommt.
Damals erwacht sein Bewusstsein. Die Welt, die er kennenlernt, ist eine Welt ohne Menschen. Als dann doch noch jemand kommt, ist er bereits vom Gedanken geprägt, dass er alleine auf der Welt ist. Und darum kennt er später auch keine Moral. Denn Moral regelt das Zusammenleben von Menschen.
Reise durch die Ereignisse der Zeit
Seinen ersten Mord begeht er mit 17. Ohne ersichtlichen Grund erschiesst er die Mutter eines Jugendfreundes. Im Gefängnis ersticht er einen Mithäftling. Er wird entlassen und lebt mit neuer Identität und dem neuem Namen Joel Spazierer in Wien. Dort mordet er weiter.
Michael Köhlmeiers neuer Roman ist nicht einfach nur die Geschichte eines Zeitgenossen. Er ist auch die Geschichte einer Zeit. War es in «Abendland», dem grossen Vorgängerroman des «Joel Spazierer» noch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, die den Hintergrund der Geschichte bildete, so ist es diesmal die zweite. Der Ungarnaufstand von 1956 zum Beispiel, der bewirkt, dass Joel Spazierer überhaupt nach Österreich kommt. Die Polit- und Drogenszene der 70er Jahre in Wien, die ihm den Kontakt zur terroristischen Linken Italiens oder zur friedensbewegten Jugend Kubas ermöglicht. Oder die späte DDR, die ihn aufnimmt und ihm, der sich nun als Enkel des grossen Ernst Thälmanns ausgibt, eine akademische Karriere als Theologieprofessor ermöglicht, obwohl er von Theologie nicht die geringste Ahnung hat.
Tragik und Komik brilliant verbunden
Und so ist Michael Köhlmeiers Roman auch ein Schelmenroman, der durchaus mit anderen grossen Romanen dieses Genres verglichen werden kann. Die Verbindung zu Grimmelshausens «Simplicius Simplicissimus» ist augenfällig, beginnen doch beide Romane mit demselben Satz. Aber auch ein Don Quichote schwingt mit und sogar ein Oskar Matzerath.Köhlmeiers ganz persönliche Note jedoch ist der Humor. «Die Abenteuer des Joel Spazierer» ist lustig. Wie in einem Chaplin-Film verbindet er Tragik und Komik auf brillante Weise miteinander. Und das macht diesen grossartigen Roman so besonders.