Niemand kannte den 49jährigen Lyoner Lehrer Alexis Jenni, als 2011 sein umfangreicher Romanerstling «L'art français de la guerre» erschien. Das hat sich gründlich geändert: Das Buch wurde zum Ereignis und mit dem bedeutendsten Literaturpreis, dem «Prix Goncourt» ausgezeichnet.
Sein Name, Jenni, klingt nicht nur schweizerisch - er ist es. Alexis Jennis Grossvater war in den 1920er Jahren aus dem Bernbiet nach Lyon gekommen. Der Enkel freilich fühlt sich durch und und durch als Franzose. Die Erfolgsgeschichte seines Romans ist ein Märchen aus dem Literaturbetrieb.
Ein kluger, opulenter und unerbittlicher Roman
Von klein auf passioniert für Literatur hat der ausgebildete Biologe seit Jahrzehnten geschrieben und für seine Manuskripte regelmässig Verlagsabsagen kassiert - bis er quasi nur für sein Vergnügen einen Abenteuerroman schreiben wollte und dazu den kaum erzählten dunklen Stoff von 20 Jahren französischer Kriegsführung zwischen 1942 und 62.
Enstanden ist ein packender Ideenroman, der klug und zugleich opulent und unerbittlich von der Résistance und Befreiung Deutschlands über den blutigen Indochinakrieg bis zum Kolonialkrieg in Algerien führt. Kaum vorher so präzis und drastisch erzählte Historie verbindet der Autor mit der Reflexion über französische Kriegsverbrechen, über die Identitätskrise und Fremdenangst des heutigen Frankreichs.
Der Wälzer wurde zu recht mit dem «Prix Goncourt» gewürdigt und breit debattiert auch von Menschen, die sonst kaum Romane lesen. Sein Ziel, so Alexis Jenni, war zur Erklärung der Gegenwart etwas beizusteuern, Verdrängtes sichtbar zu machen, besser zu begreifen, wie sich das Heute aus dem gewalttätigen Gestern entwickelt hat.
Kunstvoll verwobene Konstruktion
Der Roman, hat zwei Teile, deren Kapitel zopfartig abwechseln: Ein Teil spielt in der Vergangenheit und erzählt vom Leben eines Kriegers, Victorien Salagnon.
Zu Beginn, 1943 ist er ein 17jähriger Gymnasiast im von den Deutschen besetzten Lyon. Der junge Mann schliesst er sich einer Widerstandsgruppe an, geht ins Maquis und später, mit der Befreiungsarmee bis nach Deutschland. Dabei wird er früh mit Schrecken und Tod konfrontiert. Nach Kriegsende findet er sich bald im französischen Indochina wieder, wo die Franzosen sich ihrer Kolonie wieder bemächtigen wollen - erfolglos, wie man weiss.
Der Krieg gegen die Vietminh-Guerillas führt nach desaströsen Niederlage zum wenig ehrenvollen Rückzug und der Teilung Vietnams. Der Fallschirmspringeroffizier Victorien Salagnon geht dann von Indochina nahtlos nach Algerien, wo nach Bombenattentaten der FLN 1957 die Armee die Ruhe wieder herstellen soll. Mit wahllosen Verhaftungen systematischer Folter und Terrormorden bewirkt sie jedoch genau das Gegenteil. Im Frühjahr 1962 muss Präsident de Gaulle die Kolonie aufgeben und hinterlässt eine aufgeladene Stimmung im Land.
Ein junger Mann, der aus der Bahn geratenen ist
So verbringt Salagnon 20 Jahre in ausserordentlich grausamen Kriegen, er wird mehrfach verwundet, überlebt mit Glück und Geschick. Das ist der eine Teil, der vom «guten» Widerstands- und Befreiungskrieg zum schmutzigen, brutalen Kolonialkrieg und dem Desaster in Algerien führt.
Der andere Teil, «Kommentar» überschrieben, spielt in der nahen Gegenwart, und berichtet von einem etwas aus der Bahn geratenen jüngeren Mann. Dieser hat seine Stelle verloren und seine Frau verlassen und kommt zufällig in einem Kaffee in Lyons Banlieue mit dem Veteranen Victorien ins Gespräch kommt. Die beiden treffen sich dann regelmässig und Salagnon, der schon in allen Kriegen gemalt und gezeichnet hatte, lehrt den jungen «Hänger» auf Wunsch Zeichnen und Malen. Dieser umgekehrt schreibt die Lebensgeschichte des Kriegers auf - den Roman eben, den wir lesen.
Frankreichs Gegenwart im Spiegel der Geschichte
Der Kommentarteil spiegelt das zeitgenössische Frankreich, das besessen scheint vom Fremden, vom Araber, von gewalttätigen Zusammenstössen, von sinnloser Staatsgewalt gegen Jugendliche ohne Perspektive. Jennis Hypothese ist dabei, dass die gleichen Fehler wie in den Kolonialkriegen jetzt in Frankreichs Vorstädten begangen werden. Eben: die französische Kunst des Krieges ändert sich nicht. Die Natur des Kolonialsystems, so der Autor, wurde nicht richtig hinterfragt.
Mit seiner Zweiteilung der Menschheit in die Kolonisatoren und Kolonisierte, in französische Bürger und Unterworfene behindert es das heutige Zusammenleben im Mutterland. Dies ist die kunstvolle doppelstöckige Romankonstruktion. Sie überzeugt durch eindringliche, literarisch packende Schilderungen von Liebe und Leid ebenso wie durch kluge Fragen zum Fortwirken des Vergangenen.
Es ist ein Roman, brillant gestaltet in drastischen und erschütternden Szenen, die aber auf präziser Recherche fussen. Und bei aller schockierenden Grausamkeit, die Alexis Jenni zeigt, hält er geschickt die Balance des Zumutbaren und vermeidet jegliche Pornografie der Gewalt, wie er es nennt.
Dem Buch gelingt es mühelos, persönliche Schicksale und gesellschaftliche Bedingtheiten zu verknüpfen. Es gibt hinreissende und beklemmende Kriegsbilder ebenso wie hoch poetische oder groteske und fein ironische Episoden und zu alledem zwei bewegende Liebesgeschichten.