Sie könnte die Schwester sein von Gwendolyn, der Hauptfigur aus «Rubinrot» und den Folgebänden «Saphirblau» und «Smaragdgrün»: Liv Silber ist 15 Jahre alt, neugierig, mutig und überaus schlagfertig. Sie ist die Hauptfigur aus «Silber», dem Auftakts-Roman zur neuen Jugendbuchreihe der deutschen Autorin Kerstin Gier. All diese Eigenschaften kann Liv gut gebrauchen, denn die Autorin hat Unglaubliches vor mit ihr: Sie bestückt Liv mit der Fähigkeit, in die Träume anderer einzudringen.
Mit dieser Grundidee ist der 47-jährigen Autorin ein Coup gelungen. Kerstin Gier hat mit Fantasy-Elementen im Jugendbuchbereich bereits gute Erfahrungen gemacht: In «Rubinrot» und den Folgebänden, der sogenannten Edelstein-Trilogie, liess sie ihre jugendliche Protagonistin von London aus durch die Zeit reisen – der erste Band wurde bereits verfilmt.
Jede Türe ein Traum
Liv, ihre neue Hauptfigur, reist jetzt also durch das Zwischenreich der Träume. Sobald sie in den Schlaf fällt, ist sie in einem Korridor mit verschiedenen Türen. Jede führt in den Traum eines Menschen. Das Spiel der Möglichkeiten ist eröffnet.
Die Bekannten im Traum zu besuchen, ist jedoch nicht ungefährlich: Die Macht der Phantasie erlaubt im Traumreich jegliche Transformation und entlarvt auch die geheimsten Wünsche jener, durch deren Traumtüre man tritt. Denn Liv ist mit ihrer Spezialgabe nicht allein: Auch ein Kreis von Mitschülern führt des nachts ein äusserst lebhaftes zweites Leben.
Mut und Neugier kann die junge Liv also gut gebrauchen – denn «Silber» ist auch Thriller. Ein Dämon kommt vor, obskure Riten und halsbrecherische Kämpfe. Kerstin Gier benutzt als Rahmenhandlung einen neuen Lebensabschnitt der 15-Jährigen: Gemeinsam mit ihrer Schwester kommt sie nach London, da ihre Mutter, eine karrierebewusste Literaturprofessorin, wieder einmal eine neue Anstellung angenommen hat. Diesmal jedoch ist etwas anders: Die Mutter hat einen neuen Freund – und dieser ebenfalls zwei Kinder. Das bisherige Lebensprovisorium in wechselnden Ländern und auf verschiedenen Kontinenten scheint diesmal in ein Fixum umzuschlagen.
Eine Anti-Tussi, die begeistert isst
Anteil an Livs Fähigkeit, in die Träume anderer zu gelangen, so vermutet man bald einmal, hat ihr Stiefbruder in spe. Anders als sonst bei Jugendbuchtrilogien, schliesst Kerstin Gier die Haupthandlung ab. Sie lässt aber einige Fragen ungeklärt – wie die, woher Liv ihre Gabe hat. Hier öffnet sich das Türchen zur Fortsetzung.
Kerstin Giers schier unerschöpfliche Kunstfertigkeit, Liv schlagfertige Repliken in den Mund zu legen, ist für junge Leserinnen (und wahrscheinlich weniger: Leser) erfrischend. Besonders besticht ihre versteckte Gesellschaftskritik: Sie lässt diese Anti-Tussi mit Begeisterung essen – und konterkariert den Schlankheitswahn der Jugendlichen. Ausserdem gibt sie ihrer Protagonistin ein uraltes Handy und keines der hochkommunikativen Smartphones. Das führt dazu, dass Liv den gehässigen Schulblog im Computer der Schulbibliothek lesen muss. Kerstin Gier zeigt eine Jugendliche die in gesundem Sinne bodenständig ist.
Genau der Zielgruppe – empfohlen ist das Buch ab 14 Jahren – entspricht natürlich auch, dass das Thema Liebe nicht zu kurz kommt. Auch da vermischen sich Traum, Fantasie und Realität auf spielerische Weise. Eine solche Freundin wie Liv, die eigenständig denkt und handelt, würde man seinen Töchtern und Söhnen wünschen.