«Pass auf dich auf und komm nicht zurück.» Mit diesen Worten schickt Gulwalis Mutter den 12-Jährigen Richtung Europa. Dafür zahlt sie eine grosse Summe an eine Schlepper-Organisation. In Afghanistan fürchtete sie um sein Leben. Der heute 22-Jährige schildert in seinem Buch «Am Himmel kein Licht» die riskante Flucht: «Ich hatte das Gefühl, dass ich keinerlei Kontrolle mehr über mein Leben hatte, dabei war ich noch vor einem Monat ein normaler Schuljunge.»
Sandra Costantini, Sie arbeiten bei der Zürcher Fachorganisation AOZ (Asyl Organisation Zürich). Kennen Sie ähnliche Geschichten?
In kantonalen Einrichtungen für unbegleitete Minderjährige, die von der AOZ geführt werden, haben wir mit 12-Jährigen eher selten zu tun. Was Gulwalis Aussagen über die Flucht betrifft, sind sie durchaus plausibel.
Es kommt vor, dass Kinder von ihren Eltern – vermutlich in grosser Not – in die Fremde geschickt werden, um dort eine sichere, bessere Zukunft haben. Die Trennung von der Familie ist für die Kinder ein schwerer, oftmals relativ kurzfristig getroffener Entscheid. Die Flucht stellt in ihrem Leben eine enorme Zäsur dar, manchmal ist dies für die Kinder nur schwer verständlich.
Kinder und Jugendliche haben auf der Flucht und schon vorher Schlimmes erlebt. Wie kann man ihnen hier helfen, das Trauma zu überwinden?
Traumatherapeutische Massnahmen dauern lange und sind gemäss Fachleuten nur dann sinnvoll, wenn die Kinder und Jugendlichen dazu bereit und stabil genug sind. Bis sie sich für eine Therapie öffnen und ihre Erlebnisse bearbeiten können, steht die Stabilisierung in ihrer neuen Lebenssituation im Vordergrund. Priorität haben das Ankommen in der hiesigen «Normalität», das Schaffen eines Gefühls der Sicherheit und Orientierung sowie das Erleben von Wohlwollen und «unbeschwertem» Kind-Sein.
Gulwali bekommt für seine Flucht einen Pass, den man ihm schon bald wieder abnimmt. Beim Asylantrag in England will man ihm nicht glauben, dass er erst 13 Jahre alt ist. Das Alter ist entscheidend, denn nur Minderjährige erhalten eine besondere Behandlung und dürfen dort nicht abgeschoben werden. Wie ist das bei uns?
Dass Altersangaben angezweifelt, überprüft und unter Umständen angepasst werden, kommt in fast allen europäischen Ländern vor. Aus Einrichtungen für unbegleitete Minderjährige im Kanton Zürich sind in den letzten Jahren keine Kinder oder Jugendlichen abgeschoben worden. Es tauchen aber immer wieder einzelne Berichte auf, die auf eine andere Praxis hindeuten.
In der Schweiz gibt es kantonale Zentren für UMA (unbegleitete minderjährige Asylsuchende). Dort werden Kinder und Jugendliche speziell betreut, sie erhalten Schulbildung und werden zum Teil von Pflegefamilien aufgenommen.
Aber unterstützt man mit dieser besonderen Behandlung nicht auch ein grausames System? Werden so nicht noch mehr Minderjährige auf die lebensgefährliche Flucht geschickt, damit sie eine gute Ausbildung machen und sie ihre Familien später finanziell unterstützen können?
Es ist sicher so, dass institutionelle Vorkehrungen für Minderjährige in westlichen Ländern auch ein Anreiz sein können. Eine Familie schickt ihr Kind aber nie wegen Kleinigkeiten oder diffusen Hoffnungen auf die Flucht. Damit sie sich zu diesem Schritt entscheidet, muss in aller Regel der Leidensdruck vor Ort gross sein.
Gulwali Passarlay hat Schlimmes durchgemacht und möglicherweise hat ihn diese Erfahrung auch stark gemacht. Heute studiert der 22-Jährige Politik in Manchester. Was haben diese jungen Flüchtlinge für Chancen in unserem Land?
Im Kanton Zürich können Jugendliche nach der obligatorischen Schulzeit an berufsvorbereitenden Massnahmen teilnehmen. Es gibt immer wieder Jugendliche, beziehungsweise junge Erwachsene, die anschliessend eine Lehre absolvieren oder über andere Wege den Einstieg ins Berufsleben finden und später selbstständig in der Schweiz leben. Dass jemand als Jugendliche oder Jugendlicher an ein Gymnasium geht und später studieren kann, ist leider eine grosse Ausnahme.