Ein Mädchen sucht den Ort auf, an dem sich ihre ältere Schwester von einer Mauer gestürzt hat. Ein Sohn sieht am Strand den Vater in den Wellen verschwinden. Ein Mann liest die Zeitungsnachricht vom Flugzeugabsturz John F. Kennedy Juniors und beschliesst plötzlich, dass er genug habe. Genug von allem.
Alltägliche Unglücksfälle sind das, nichts weiter. Eine leise Drift ins Abseits aus den regulären Verhältnissen des Lebens. Gefährdungen und plötzliche Abstürze. Zoë Jenny hat sie erzählt in ihrem neuen Buch «Spätestens Morgen».
Der Eisberg
Es sind Kurzgeschichten. Erzählungen aus den letzten fünfzehn Jahren. Sie sind der amerikanischen Short Story verpflichtet, Raymond Carver oder Hemingways berühmter Theorie vom «Eisberg» aus der Nobelpreisrede von 1954: In der Story zu sehen ist nur der kleine Teil des Eisbergs, der oberhalb der Wasserfläche, der grosse Rest bleibt unter Wasser verborgen. In der Hohlform, im Weglassen liegt das Wesentliche, darin liegt die Spannung.
Zoë Jennys Geschichten halten sich daran. Sie sind nie fertig erzählt, kaum eine mehr als zehn Seiten lang. Es sind Momentaufnahmen, die die Dramatik und die Tragik der Ereignisse beleuchten, ohne dass Licht bis in die hintersten Winkel eines Geschehens oder einer Biographie fiele.
Lost in Transition
Die Auslassung ist die Kunst und Zoë Jenny beherrscht sie in diesen knappen, präzise verknappten Geschichten. Keine exaltierten Vorkommnisse, keine exzentrischen Charaktere, nichts Auftrumpfendes. Nüchtern, fast spröde, erzählt sie von alltäglichen Vorkommnissen und deren Essenz: Traurigkeit, Trennung, Verlust, Verrat. Die Handlungsorte sind weit gespannt – entlang Jennys eigener Biographie – über Europa, Amerika und Asien verteilt. Aber darauf komm es nicht an. Die Orte und Handlungsräume sind nicht beliebig, aber transitorisch, so flüchtig, gleitend wie das Innenleben der Figuren.
Blütenstaubzimmer
Zoë Jenny hat viel im Ausland gelebt in den letzten Jahren, in London vor allem, wo ihr letztes Buch «The sky is changing» nur auf Englisch in einem englischen Verlag erschien. Beachtet wurde es nicht mehr, nach dem grossen Überraschungserfolg mit dem «Blütenstaubzimmer» 1997 und den weitgehend erfolglosen Büchern danach. Jennys zweiter Roman «Der Ruf des Muschelhorns» erlebte eine Hinrichtung durch die Kritik. Danach war es aus – und die prominente Autorin nur noch Thema des Boulevard. Privates war von Interesse, die folgenden Romane waren es nicht.
Der Tag ist da
Und nun also Erzählungen, Kurzgeschichten. Ein oft unterbewertetes Genre. In ihnen wirkt es so, als sei Zoë Jenny als Autorin bei sich angekommen. In ihnen kann sie anknüpfen an das überzeugende Debut, an Themen und Tonfälle, die ihr gemäss sind.
«Der Tag ist da» heisst so eine Geschichte: Die alte Besitzerin einer Münchner Pension kleidet sich wie für einen besonderen Tag, als sie ihre wenigen Gäste bewirtet. Zwei junge, etwas verwahrloste Mädchen fallen ihr auf beim Frühstück. Sie wird geschlagen und beraubt, von ihnen, von den Mädchen. Es ist ihr besonderer Tag. Gegenüber blinken unaufhörlich die farbigen Lampen eines Elektrogeschäfts, «als wäre da draussen ein rauschendes Fest».
Zoë Jenny erzählt das beiläufig, stilistisch angemessen und nahezu perfekt. Der Ton ist schlicht, sachlich und gerade das berührt, klingt nach. Irreführend, fast ärgerlich ist nur das Cover, mit dem der Verlag das neue Buch bewirbt: Frau im Sommerkleid auf Wiese, mit Weichzeichner Effekt.