Altfrieds Hobby hat nichts mit Märchen, mit Elfenkönigen, zu tun. Als Erlkönige werden neue Auto-Modelle bezeichnet, die noch in der Testphase sind und deshalb perfekt getarnt auf deutsche Autobahnen geschickt werden. Natürlich nachts oder in der Dämmerung und mit Pappklebern und Folien retuschiert, damit man die neue Form nicht erkennen kann. Autozeitschriften bezahlen sehr viel Geld für Fotos von Erlkönigen. Und weil es Altfried in seiner Jugend einmal gelungen ist, ein Foto von einem solchen Erlkönig zu schiessen, hat ihn nun der Ehrgeiz gepackt, diesen Erfolg zu wiederholen.
Interessant ist das, was nicht da ist
Aber eigentlich sind Altfried Erlkönige ganz egal. Oder wie es an einer Stelle im Roman «Die Sonnenposition» heisst: «Ich interessierte mich nicht für Automobile. (...) Grundsätzlich interessierte ich mich für abwesende, für unauffindbare Automobile, ich interessierte mich hauptsächlich für ihre Abwesenheit.» Es geht ihm also nicht ums Eigentliche, es geht ihm ums Uneigentliche. Um das, was man eben gerade nicht sehen kann. Um das, was getarnt oder versteckt wird, oder sogar um das, was gar nicht da ist.
Und schon sind wir beim Kern von Marion Poschmanns Roman: Die Handlung kommt zwar ganz handfest daher, aber nur auf den ersten Blick. Denn Marion Poschmann ist eine Meisterin der Doppeldeutigkeiten. Eine Meisterin des Vertuschens, des Verbergens, des Verdeckens. Oder wie die Jury des Wilhelm-Raabe-Literaturpreises Anfang November konstatierte: «Marion Poschmann ist eine Meisterin der Camouflage und der Mimikry, der Spiegelungen und Täuschungen, der Dialektik des Sich-Zeigens und Sich-Verbergens.»
Poschmann entwickelt in ihrem Roman ein Motivgeflecht des Verschwindens, des Unsichtbar-Werdens. Sie versucht den schönen Schein zu dekonstruieren, indem sie Schicht für Schicht dieses schönen Scheins abträgt, um hinter die Fassade zu blicken.
Zahlreiche literarische Anspielungen
«Die Sonnenposition» ist ein komplexer Roman, reich instrumentiert, voller hinreissend schöner Prosabilder, zum Teil einer Ästhetik des Morbiden verpflichtet, voller glänzender Beobachtungen, Psychologie, Stimmungen, voll Beklemmendem auch.
Man muss sich darauf einlassen, dass es ein Text ist, in dem es mehr um Beschreibungen als um Handlung geht, um eine nebulöse, sehr vage Atmosphäre. Kurz: mehr Reflexion als Narration. Es ist ein Text, in dem man häufig die Lyrikerin Marion Poschmann wiederfindet, ein Text mit zahlreichen literarischen Anspielungen, darunter das Erlkönig-Motiv.
Goethes Erlkönig ist ein Auto
Die ersten Zeilen von Goethes Erlkönig-Gedicht kennt jedes Schulkind: «Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? / Es ist der Vater mit seinem Kind.» Bei Goethe ist der Erlkönig der Todesbote. Und auch die Handlung von Poschmanns Romans setzt ein mit dem plötzlichen Tod von Altfrieds Freund Odilo. Durch diesen Verlust stürzt Altfried in eine Art Sinnkrise, er zieht eine Zwischenbilanz seines Lebens, er erinnert sich an seine Kindheit – was zur Folge hat, dass sein Leben im Hier und Jetzt immer mehr aus den Fugen gerät. Und das ausgerechnet bei ihm, der als Psychiater in einem alten Barock-Schloss im Osten Deutschlands anderen helfen soll, ihre innere Mitte wiederzufinden.
Die Bezeichnung Erlkönig für ein Automodell in Testphase ist tatsächlich dem Gedicht von Goethe entlehnt. In den 50er Jahren hat die deutsche Autozeitschrift «auto motor und sport» dieses Gedicht persifliert und umgedeutet. Sie druckte ein Foto von einem Mercedes ab, dem «jüngsten Kind» von Daimler Benz. Der Kommentar: «Wer fährt da so rasch durch Regen und Wind?». Seitdem hat der «Erlkönig» einen festen Platz im Wortschatz deutscher Autofans. Marion Poschmann hat ihn zurück in die Literatur geholt.