Wie wäre das herausgekommen, wenn der Kanton Basel-Stadt im 19. Jahrhundert eine afrikanische Kolonie gehabt hätte? Eine zurückgekehrte Missionarin erzählt, wie sie am Kongo-Fluss die Kantonsgründung vorwärtsgetrieben habe, indem sie den Affen das Trommeln und den Papageien das Pfeifen beigebracht habe, wie sie aus Flamingo-Exkrementen ein rotes Rathaus errichtet und aus Okapi-Milch Käsewähen gebacken habe. Nur ein anständiges Läckerli sei ihr nie gelungen: «Immer wenn sie ein missratenes Läckerli gegessen habe, sei sie ans Fenster getreten, habe auf den nebelverhangenen Fluss hinausgestarrt und geflüstert: ‹Das ist der Horror, der Horror›».
Diese kleine Episode aus dem Kapitel «Wie es in Basel war» demonstriert beispielhaft, wie Matto Kämpfs Erzählung «Kanton Afrika» funktioniert: Es ist eine furcht- und respektlose Vermischung von Mythen und Klischees über die Kantone der Schweiz mit regionalhistorischen und allgemeinen kulturellen Anspielungen – im zitierten Fall eine Vermischung von Basel-Klischees mit Joseph Conrads Roman «Herz der Finsternis».
Weihnachtsgeschichte von Kämpfs Urgrossvater
Erzähler dieses Geflunkers ist Matto Kämpfs erfundener Urgrossvater Immanuel Kämpf aus dem Berner Oberland. Ein grosser Fabulierer muss das gewesen sein, ein Plauderi und Tunichtgut, aber auch ein genialer Erfinder und Überlebenskünstler, der vor vielleicht 150 Jahren auf der Flucht vor dem Landjäger eine unfreiwillige Schweizerreise durchlebte. Warum die Polizei hinter ihm her war, bleibt ungelöst, aber vielleicht hatte seine Flucht auch innere Antriebe, wie die ersten drei Sätze der Geschichte nahe legen: «Das Berner Oberland ist ein mit Tannen bewachsener Unsinn. Noch blöder ist es, wenn es schneit. Dann sind alle drinnen und der Charakter platzt heraus.»
Urwald gibt es also nicht nur im Kongo, sondern auch im Berner Oberland. Jedenfalls zu Urgrossvaters Zeiten. Die Schweiz, durch die er fliehen musste, sei damals wohl ähnlich wild, undurchdringlich und fremd gewesen wie uns heute der kongolesische Dschungel erscheint, meint Urenkel und Autor Kämpf.
Seine Reiseerlebnisse erzählte Immanuel jeweils an Weihnachten am Familientisch, so die Rahmenhandlung der Geschichte: Er sei mit einer aufgeblasenen Kuh als Ballon über die Alpen ins Wallis geflohen und habe dort den Katholizismus kennengelernt. Mit Calvin und dem Protestantismus habe er den Genfern die Lebenslust ausgetrieben, und im Jura habe er mithilfe der Grünen Fee die Bourbaki-Armee versorgt. Und im damals noch prähistorischen Thurgau habe er den dortigen Steinzeitmenschen die Mammutjagd beigebracht. Unterwegs habe er ausserdem die Psychologie und die Panorama-Fotographie erfunden und noch vieles mehr.
Ein Festival der Zitate und Anspielungen
Sendungen zu Matto Kämpf
«Kanton Afrika» ist eine Parodie auf Abenteuerromane. Aber diese Geschichte lebt nicht unbedingt von der Handlung, die oft genug grotesk oder fantastisch ist und im übrigen frei zwischen den Jahrhunderten flottiert. Anspielungen und Zitate auf Teufel komm raus, das ist es, was Matto Kämpf kultiviert: Übungen in streng protestantischem Stil neben historisierender Schreibweise, Goethes Italienreise neben der Schlacht von Morgarten.
A propos Morgarten: Gewisse schweizkritische Nebentöne seien zwar nicht beabsichtigt, aber auch nicht zufällig. Als Immanuel in der Innerschweiz auf ein Schlachtfeld gerät, entsteht folgender Dialog mit Schlachtwart Balz: «‹Wo sind wir?›, fragte ich ihn. ‹Am Morgarten bei Sempach› - ‹Wer gegen wen?› - ‹Schweiz Österreich› - ‹Warum hat es auf beiden Seiten Schweizer?› - ‹Charakter›». Auf beiden Seiten stehen, um sicher zu den Siegern zu gehören, ist halt Charaktersache.
Phantasie gegen Konzept
«Kanton Afrika» ist ein helvetisches Kulturkonzentrat, witzig, grotesk, böse – und eine höchst vergnügliche Lektüre. Gut: Nach dem fulminanten Einstieg hat man bald begriffen, dass sich die Erzählung von Kanton zu Kanton weiterhangelt, dass den Erlebnissen in jedem Kanton lokal motivierte Absurditäten zugrundegelegt werden und dass man herausgefordert wird, möglichst viele Anspielungen zu entdecken. Gegen diese Durchschaubarkeit hält zum Glück Matto Kämpfs unversiegbare Phantasie die Entdeckerfreude aufrecht. Und wer selber aktiv werden möchte: Am Schluss des Buches ist eine gänzlich leere Schweizerkarte abgedruckt. Jede und jeder darf sie selber mit seinem Schweiz-Bild füllen.