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Literatur «Meine geniale Freundin»: Mafia herrscht, Freundschaft siegt

Elena Ferrante macht zurzeit von sich reden: Man weiss nicht, wer die Frau ist, deren Saga in Italien und den USA zu Recht zum Bestseller wurde: Die Geschichte zweier Frauen, die da aufwachsen, wo Männer und Mafia das Sagen haben.

Die italienische Autorin Elena Ferrante hat sich entschlossen, anonym zu bleiben und unter einem Pseudonym zu schreiben. Das war 1992, damals erschien ihr erster Roman.

In einem Interview mit dem Spiegel sagte sie kürzlich, dass sie daran glaube, dass Bücher nur sich selbst bräuchten – und sich ihre Leser selbst suchen müssten. Das sei der Grund für ihre Abwesenheit und nicht etwa ein Spiel mit den Medien. Sie halte den gegenwärtigen Rummel um ihre Person als vergänglich.

Zwei Frauen, die miteinander tanzen. Luftballons schweben in der Luft.
Legende: Leichtigkeit in schweren Zeiten: «Meine geniale Freundin» erzählt die Geschichte zweier Frauen, die zusammenhalten. emoji / photocase.de

Neapel zwischen Dreck und Gewalt

Was aber nicht vergänglich ist, ist «Meine geniale Freundin», der erste Teil ihrer neapolitanischen Saga. Das Buch (im Original «L’amica geniale») besticht: Es ist die eindringliche Geschichte von zwei Mädchen, die Freundinnen werden.

Ihre Freundschaft bedeutet für sie alles – mehr als 60 Jahre lang. Bis zu dem Tag, an dem die eine der beiden spurlos verschwindet.

Die beiden Mädchen wachsen in den 1950er-Jahren am Stadtrand von Neapel auf, zwischen anonymen Siedlungsbauten und engen Gassen. Zwischen Dreck, Lärm und Gewalt, in einem Armutsviertel – Rione nennt Ferrante es in ihrem Roman.

In Wirklichkeit ist es der Topographie entsprechend Rione Luzzatti, ein Viertel im Osten der Stadt, nur wenige Kilometer vom historischen Zentrum entfernt. Hier hat die Camorra noch heute das Sagen.

Inspirierende Mädchenfreundschaft

Die Ich-Erzählerin heisst Lenu. Sie ist blond, rundlich, schüchtern, intelligent. Ein Mauerblümchentyp, der strebsam weiter zur Schule geht und regelmässig Klassenbeste wird.

Ihre Freundin Lila dagegen ist eine versteckte Schönheit. Schwarzhaarig, kantig, draufgängerisch, scharfsinnig. Sie schmeisst die Schule und arbeitet in der Schuhwerkstatt ihres Vaters. Dort wird sie gebraucht.

Da beide Mädchen verschieden sind, spornen sie sich gegenseitig an. Sie konkurrieren und inspirieren einander, auch wenn sie sich manchmal über längere Zeit aus den Augen verlieren. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, richten sie ihr Handeln und Tun aufeinander aus.

Spirale von Armut und Gewalt

Elena Ferrantes Roman lebt von diesen beiden gegensätzlichen Figuren, von ihrem Kampf als Frauen ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen – auch wenn sie eigentlich im sozialen Gefüge gefangen sind.

Denn hier haben die Männer und die Camorra – die regionale Mafia – das Sagen. Letztere erstickt jegliche Versuche einzelner, aus der Spirale von Armut und Gewalt auszubrechen.

Starke Figuren, starke Geschichte

Man spürt: Elena Ferrante glaubt an ihre Figuren. Sie sind dreidimensional, sie sehen, riechen, schmecken, fühlen – wie im wahren Leben. Da gibt es nichts Reisserisches, auch keine Stereotypen.

Buchhinweis:

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Elena Ferrante: «Meine geniale Freundin». Band 1 der neapolitanischen Tetralogie. Suhrkamp Verlag, 2016.

Band 2, 3 und 4 erscheinen voraussichtlich im Frühjahr, Sommer und Herbst 2017.

Die Teenagerprobleme von Lenu und Lila, ihre ersten Lieben und Enttäuschungen, die Zustände im Rione, die Camorra – all das ist starker Stoff, der keine Übertreibung braucht.

Man begleitet die beiden durch ihre Zeit, in der sie langsam erwachsen werden und das hat eine Kraft, die einem beim Lesen mitreisst.

Nur ein Hype?

Wer nun also glaubt, Elena Ferrante sei einfach ein weiterer Medien-Hype um eine Autorin, die wegen ihrer Anonymität hochgejubelt wird, der irrt sich.

«Meine geniale Freundin» ist ein Buch, das nachhallt, das einem weiter begleiten wird. Und ein Buch, dessen Fortsetzung man kaum erwarten kann.

Sendung: Kultur Aktuell, Radio SRF 2 Kultur, 26. August 2016, 17.15 Uhr

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