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Park mit Trabbie-Statue
Legende: «Zwischenspiel» ist ein verspieltes, philosophisches und pointiert politisches Buch. Keystone

Literatur Mit Toten die grossen Fragen des Lebens besprechen

Als Ruth am Morgen erwacht, ahnt sie nicht, dass der sonderbarste, aber auch schönste Tag ihres Lebens beginnt. Eine Sehstörung macht, dass ihr quicklebendige Tote begegnen. Mit ihnen bespricht sie die ganz grossen Fragen ihres Lebens: klug, witzig, moralfrei.

Was wäre, wenn die Toten noch einmal lebendig würden? Dann könnten wir von ihnen erfahren, was sonst für immer im Dunkeln bliebe. Oder ihnen sagen, was zu ihren Lebzeiten ungesagt blieb. Eine Idee, welche die 72-jährige Autorin Monika Maron in ihrem neuen Roman «Zwischenspiel» aufgreift und daraus ein verspielt philosophisches und pointiert politisches Buch entwickelt.

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«Zwischenspiel» von Monika Maron. S. Fischer, 2013.

Es wundert nicht, dass die 60-jährige Ruth wenig Lust hat, zur Beerdigung ihrer Beinahe-Schwiegermutter Olga zu fahren. Vor vielen Jahren hatte sie nämlich Olgas Sohn Bernhard, ihren damaligen Verlobten und Vater ihrer Tochter, schmählich im Stich gelassen. Das war noch zu DDR-Zeiten, in sowieso schon schwierigen Verhältnissen. Ruth war damals nicht bereit, sich aufzuopfern für Andy, Bernhards Jungen aus einer früheren Beziehung, den ein Unfall zum Schwerstbehinderten gemacht hatte. Aber das Gefühl von Schuld blieb. Auch nach vielen Jahren und vielen Beziehungen, in denen Ruth teils selbst verraten und verlassen wurde.

An Olgas Beerdigung, das weiss Ruth, wird sie Bernhard und Andy wieder treffen. Beide hat sie lange nicht mehr gesehen. Auch Sonja wird da sein, die Tochter, die Ruth mit Bernhard hat. Ruths Kontakt zu ihr ist nicht der beste, weil Sonja zum Vater hält. Auch wenn dieser sie als Kind benutzt hatte, um Ruth zu bespitzeln, damals, als sie mit Sonja und dem neuen Mann Hendrik nach West-Berlin umgezogen war.

Jahrelange Schuldgefühle

Da kommt Ruth am Morgen des Begräbnisses die plötzliche Sehstörung jedenfalls gerade recht. Schon beim Zeitunglesen am Frühstückstisch verrutschen die Buchstaben vor ihren Augen. Als sie auf dem Balkon die erste Zigarette des Tages raucht, sieht sie sogar eine kleine Wolke rückwärts über den Himmel fliegen – ein «geheimnisvoller Richtungswechsel», der ihr später wie das Motto zu einem gänzlich verrückten Tag scheint.

Auf dem Weg zum Friedhof verfährt sie sich, landet in einem Park und beschliesst, Olgas nun halt dort zu gedenken. Natürlich rechnet sie nicht damit, dass sich diese flugs zu ihr gesellt, zusammen mit anderen quicklebendigen Toten und Spukgestalten. Olga, die Beinahe-Schwiegermutter, macht Ruth nicht etwa Vorhaltungen. Obwohl sie selbst ihre eigenen Wünsche ein Leben lang den Bedürfnissen anderer geopfert hatte, redet sie ihrer Beinahe-Schwiegertochter die Schuldgefühle aus: «Schuld bleibt immer, so oder so.» Sie nimmt Ruth aber auch ins Gebet: Wo macht sie es sich zu einfach? Wo verharrt sie in festgefahrenen Bahnen?

Klug, witzig und moralfrei

Empörung über Bernhards Spitzeltätigkeit zum Beispiel lässt Olga nicht gelten: «Aus seiner Sicht hat er eine anständige Wahl getroffen.» Es wäre Bernhard ein Leichtes gewesen, die Ausreise seiner Tochter in den Westen zu verhindern. Umso mehr, als Ruths neuer Mann als regimekritisch galt. Allenfalls hätte Bernhard die beiden sogar ins Gefängnis bringen können. Er konnte also nur zwischen falsch und falsch wählen: Sonja behalten, indem er Ruth und Hendrik schadet, oder sich von der Stasi anheuern lassen, um die Tochter weiterhin sehen zu können.

Man braucht nicht in einer Diktatur gelebt zu haben, um sich in Monika Marons traumtänzerischem Buch wiederzufinden. Denn wer auch immer unter den Toten sich zu Ruth in den Park gesellt – ihre Fragen werden im Handumdrehen zu den unseren. Haben wir die richtigen Entscheidungen getroffen? Würden wir es anders machen, wenn wir nochmals von vorn anfangen könnten? Haben wir unser Leben überhaupt selbst in der Hand? Schwierige Fragen. Fallen die Antworten so klug, witzig und moralfrei wie in «Zwischenspiel» aus, lässt man sie sich gerne gefallen.

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