Nach seinem letzten Roman «Nada oder die Frage eines Augenblicks» wurde es still um Rolf Niederhauser. Nun, mehr als ein Vierteljahrhundert später, meldet er sich zurück: Der in Basel ansässige Solothurner Autor überrascht mit dem satte 730-Seiten-starken Roman «Seltsame Schleife». Er spielt zur Hauptsache in den ersten Wochen des Jahres 1997 in Kolumbien.
Protagonist ist der 32-jährige Schweizer Mathematiker Pit Dörflinger. Er ist Mitglied eines Forschungsteams am berühmten MIT in Cambridge/Boston, das an der Entwicklung eines humanoiden Roboters arbeitet, der Umweltimpulse aufnehmen kann. Den ganzen Roman beschäftigt sich Dörflinger obsessiv mit der Frage nach den Funktionsprinzipien von menschlichem Bewusstsein und Sprache.
Im Hotel einer kolumbianischen Hafenstadt
Zu Beginn sehen wir Dörflinger im Februar 1997 in der kolumbianischen Hafenstadt Buenaventura: Ausgespuckt als blinder Passagier aus Panama, wo er glaubt, versehentlich einen Menschen getötet zu haben. In einem schäbigen Hotel beginnt er, in sein Notebook aufzuzeichnen, was er während der paar wilden Wochen zuvor erlebt hat.
So unternimmt das Buch eine doppelte Reise: zurück in die turbulente Präsenz der jüngsten Vergangenheit und zugleich viel tiefer in die verborgenen Geheimnissen seiner familiären Herkunft. Das Ganze gespiegelt in seinem beruflichen und politischen Erkenntnisinteresse.
Ein störender Erzähler
Dabei werden die Reiseaufzeichnungen und -reflexionen in der Ich-Form erzählt. Diesen Text unterbricht derweil immer wieder ein Erzähler/Autor, um in Er-Form dem irritierten Schreibenden gleichsam über die Schulter zu schauen. Auch bei dessen theoretischen Erörterungen: Gelten diese vordergründig der künstlichen Intelligenz – dem Problem, einen Roboter aus den einfachsten Funktionen, also von unten nach oben, zu entwickeln – fragt der Roman im Kern freilich nach der Natur des menschlichen Bewusstseins. Er stellt so, am Ende des Millenniums, Kants Grundfragen nach den Wissensmöglichkeiten und der Moral des Menschen.
In Anlehnung an «Homo Faber»
Pit Dörflinger ist kurz vor Weihnachten in Boston aufgebrochen, um bei der Familie seiner Freundin in Texas zu feiern. Aus Unlust folgt er dann jedoch einer spontanen Einladung zu einem alten Freund in Mexico (Max Frischs «Homo Faber» lässt grüssen, mit dem der neue Faber nicht nur diese Destination teilt, wie Frisch-Fan Niederhauser bestätigt).
Von Mexico geht’s zunächst mit dem Freund und dessen Tochter nach Ecuador und auf die Galapagos-Inseln, später allein ins benachbarte Kolumbien. Dort, im bürgerkriegs-gebeutelten Bogotà, lernt Dörflinger zufällig eine ehemalige Guerillera kennen und heftet sich an ihre Fährte.
Gefangen in einem Möbiusband
Mit der so klugen wie entschlossenen Flor Marina – der schönsten Figur des Buches – bereist der zögerlich-grüblerische Dörflinger dann die Schönheiten Kolumbiens. Bis hin zur Fussquerung des unwegsamen Grenzdschungels Darien zwischen Kolumbien und Panama, zwischen Süd- und Nord-Amerika also.
In der Liebesbegegnung mit Flor Marina und ihrer tragischen Lebensgeschichte verliert der Mathematiker bald alle Gewissheiten. Seine Zukunftsforschung mündet in der Suche nach seiner Vergangenheit, aber auch umgekehrt: Vergleichbar mit der seltsamen Schleife eines Möbiusbandes, wo die äussere Seite nahtlos in die innere übergeht (was die originelle äussere Gestalt des Buchs übrigens nachbildet).
Der Protagonist entschwindet
In den wissenschaftlichen, politischen und sozialen Diskurs mischt sich dann die zunehmend dringliche Suche nach der Wahrheit über Dörflingers persönliche familiäre Herkunft, namentlich nach seiner nie gekannten, offenbar kolumbianischen Mutter. In einer gewagten, im Lesefluss durchaus plausiblen Engführung, verbeisst sich der Held schliesslich in die nicht mehr verifizierbare Vermutung, seine Mutter sei auch jene von Flor Marina – das Liebespaar also ein Geschwisterpaar.
Doch da ist Flor Marina in der Millionenstadt Bogotà schon spurlos entschwunden. Ebenso entgleitet Dörflinger selbst den Lesenden. Seine Ich-Notate aus Buenaventura entpuppen sich als Web-Dokument, das der Autor Jahre später aus dem Internet fischt. So endet das Buch doppelt offen: Mache sich jeder seinen eigenen Reim!
Souveräner Erzähler mit Hang zur Länge
Was am Roman «Seltsame Schleife» beeindruckt, ist zum einen die Fülle an faktischer Vergegenwärtigung von Natur und Gesellschaft jener Länder. Zum andern die faszinierende fiktive Gestaltung menschlicher Konstellationen, von individuellen Handlungen und Empfindungen. Rolf Niederhauser überzeugt als souveräner, szenisch gewiefter Erzähler in einer geschmeidigen wandlungsfähigen Sprache. Die theoretisierenden Einschübe lesen sich anfangs attraktiv und anschaulich, mit der Zeit mitunter etwas ermüdend.
Am Ende, keine Frage, triumphiert die Literatur, das Erzählen über das Essayistische und über alle Theorie. Leser brauchen einen langen Atem, werden im Laufe der soghaften Lektüre jedoch immer wieder reich belohnt.