Hellmuth Karasek war ein Vielschreiber und Vielredner. Einer, den man im Notfall nachts um fünf Uhr wecken konnte, um ihn zwei Stunden später im Frühstücksfernsehen auftreten zu lassen – (fast) gleichgültig zu welchem Thema, eine Show mit Verve war garantiert.
Was hingegen wenig bekannt war: Karasek war ein Eliteschüler des «Dritten Reichs» gewesen. Er besuchte die nationalpolitische Erziehungsanstalt (Napola) in Loben, im heutigen Polen. Obschon er nur wenige Monate dort war, hat ihn diese Zeit sehr geprägt. Das lernte ich verstehen, als ich 2008 zusammen mit Eduard Erne einen Film über ehemalige «Napolaner» drehte, die die künftige Elite des 1000-jährigen Reichs bilden sollten und häufig in der jungen Bundesrepublik Karriere machten – wie Hellmuth Karasek.
Der Zwang zur Disziplin prägte ihn tief
Gemeinsam mit Karasek suchten wir seine ehemalige Schule auf. Karasek gehörte zu jenen «Ehemaligen», die an ihrer Napola-Zeit kein gutes Haar liessen – was nicht die Regel war. Viele Absolventen singen heute noch das hohe Lied dieser auf Drill, Gehorsam und «Glauben» (an Führer, Volk, Vaterland und die Überlegenheit der arischen Rasse) fundierten Erziehung.
Das Allerwichtigste war Disziplin. Karasek hasste die Schule, er hatte Heimweh und wollte weg. Aber er hasste es auch, sich unterkriegen zu lassen und blieb. Der damals so ungeliebte Zwang zur Disziplin prägte ihn tief. Er, der Genussmensch und Bonvivant, schrieb die Trias «Wein, Weib und Gesang» für sich um: Bei ihm ersetzte Disziplin den Gesang.
Langsam und eindringlich
Während wir für den Film durch Polen fuhren, diktierte er im Auto einer Hamburger Redaktorin per Handy seine wöchentliche Kolumne, die er nachts im Hotel geschrieben hatte. Das fiel gar nicht besonders auf. Denn wenn er nicht telefonierte, redete er – unaufhörlich, in seinem typisch langsam-eindringlichen Ton. Es war tatsächlich immer unterhaltsam: ein Mix aus Erinnerungen, Anekdoten, Ratschlägen für die Lebensgestaltung – und Witzen.
Beitrag zum Thema
Das war der Part, in dem auch ich zu Wort kam. Karasek saugte jeden neuen Witz auf wie ein Süchtiger, um ihn dann mit einem eigenen zu überbieten. Es wurde viel gelacht bei diesem Dreh, auch wenn das Thema bedrückend war. Auf dem alten Sportplatz der Schule bückte er sich plötzlich, riss zwei Stängel Pfeifenputzergras aus und schlug sie gegeneinander, bis dem einen der «Kopf» abfiel. «Das haben wir damals gespielt – wir nannten es ‹Judenköpfen›. Ich hatte das bis zu diesem Moment vergessen.» Seine Betroffenheit war echt. Fast wie die eines Knaben.
Kindlichkeit verbunden mit Klugheit
Auch das wurde auf dieser Reise in die Vergangenheit deutlich: Karasek hatte sich auch im Alter ein erstaunliches Mass an Kindlichkeit erhalten. Eine liebenswerte Naivität, Rede- und Spielfreude, die sich bestens mit einer sehr handfesten Klugheit vertrug. Die Beschäftigung mit, ja das Leiden an der deutschen Vergangenheit, war für ihn ein Lebensthema, Holocaust und Antisemitismus das grosse Schreckensbild seiner Biografie.
Das Konzentrationslager Auschwitz liegt in jenem Kreis, in dem sein Vater NS-Organisationsleiter war. Karasek meinte, auf der Fahrt in die Napola daran vorbeigekommen zu sein. Wir machten die Probe – und er musste feststellen, dass ihn in dem Punkt die Erinnerung trog. Es war das einzige Mal, dass er keine Worte fand .
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 30.9.2015, 07:20 Uhr.