Es ist eine alltägliche Prozedur: Man steht am Morgen auf, watschelt ins Badezimmer und betrachtet sein morgendliches Ich – meist zwangsläufig – im Spiegel. Und nicht selten fallen einem frische Falten oder kleine Kratzer am eigenen Körper auf. Meist hat man die nach dem Badezimmerbesuch gleich wieder vergessen.
Für den US-amerikanischen Autor Paul Auster geht der Blick in den Spiegel tiefer. Die Narben auf seinem Körper erinnern ihn an Ereignisse seines Lebens. Erinnerungen, die er in «Winterjournal» niedergeschrieben hat.
«Dein Körper, der ... »
Auster scannt seinen Körper. Und jeder Scan bringt ein Stück seiner Vergangenheit zurück. So versetzt ihn die Narbe an seiner Augenbraue in den Turn-Unterricht als Jugendlicher zurück, wo er mit voller Wucht gegen eine Mauer rannte. Eine andere Narbe am Kinn ist ihm hingegen unerklärlich und – wie er schreibt – wohl von «unsichtbarer Hand» entstanden. Auster erinnert sich anhand seines Körpers an kleine Episoden, und setzt seine Lebensgeschichte aus kleinen Puzzleteilchen zusammen.
Doch nicht nur Blessuren spürt Auster in «Winterjournal» auf. Der Körper erinnert Auster auch an die vielen, scheinbar banalen Orte, an denen er mit ihm war:
«Dein Körper in kleinen Räumen und grossen Räumen. Dein Körper, der Treppen hinauf- und hinuntergeht. Dein Körper, der in Teichen, Seen, Flüssen und Meeren schwimmt ... »
Ordnung schaffen
Buchhalterisch erstellt Auster eine Liste der 21 Lebensorte seines Körpers. Jeder Lebensort erzählt ihm auch eine Episode seines Lebens. Über seine 16. Station, Stanfordville (New York), schreibt Auster: «Hier brach deine erste Ehe auseinander, hier erdrückte dich die Last ständiger Geldsorgen und hier bist du als Dichter in die Sackgasse geraten.»
Von seinen Sexabenteuern mit Prostituierten über die Fress-Attacken mit Schokolade oder die Unmengen an gerauchten Zigaretten bis hin zu den Fischgräten, die ihn beinahe das Leben kosteten: Alle diese Erinnerungen nimmt Paul Auster in «Winterjournal» auf. Er erstellt so ein beeindruckendes Archiv von scheinbar banalen Sinnesdaten.
In seiner «New York Trilogie» schreibt Auster, dass das Leben nur die Summe von Zufällen, von wahllosen Ereignissen sei, die nichts als ihre Planlosigkeit enthüllen würden. Doch es scheint ganz so, als möchte Paul Auster – dieses Jahr 66 geworden – mit «Winterjournal» doch noch eine gewisse Ordnung ins angebliche Chaos bringen, indem er im Buch seine Sinnesdaten archiviert.
Was der Kopf nicht weiss …
«Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten», schreibt Auster in «Winterjournal». Das fortgeschrittene Alter scheint Auster seine Endlichkeit bewusst zu machen. Doch schon ein Leben lang erinnert ihn der Körper an seine Zerbrechlichkeit. Immer wieder bricht er zusammen, erleidet lähmende Panikattacken: «Das ist die wiederkehrende Geschichte deines Lebens. Wann immer du an eine Weggabelung kommst, bricht dein Körper zusammen, denn dein Körper hat schon immer gewusst, was dein Kopf nicht weiss.»
«Winterjournal» ist eine aussergewöhnliche Biografie, die den Körper als Zeugen befragt. Doch mit «Winterjournal» hat Auster seine Körper-Biografie noch nicht abgeschlossen. «Report from the Interior», eine Art Fortsetzung, erschien diesen November auf Englisch. Es handelt sich um Austers Reise durch seinen Kopf.