Wäre er nicht selbst Schwede und einer, der sich einmischt, hätte er wohl längst den Literatur-Nobelpreis bekommen: Per Olov Enquist. Verdient hat ihn der 79jährige vielseitige Schriftsteller für seine grandiosen Romane, bestechenden Stücke und eigenwilligen Essays allemal.
Ein grosses, literarisch hochstehendes und erfolgreiches Oeuvre, das existentielle Fragestellungen in unvergesslichen Geschichten umkreist. Stets sensibel und unerbittlich, nüchtern und poetisch zugleich sind seine Werke, von «Die Ausgelieferten» oder «Gestürzter Engel» über «Kapitän Nemos Bibliothek» bis zum «Besuch des Leibarztes», dem «Buch von Blanche und Mary» und zuletzt «Ein anderes Leben».
Die erste Liebe
Vier Jahre nach «Ein anderes Leben», dieser aufwühlenden biografischen Selbsterforschung, deren Kern die jahrelange Alkoholkrankheit des Autors und ihre Überwindung in extremis im Winter 1990 auf Island bildet, erinnert und erzählt Per Olov Enquist nun in «Das Buch der Gleichnisse» seine erste Liebe. Aus dem Abstand von Jahrzehnten.
Der Erzähler, aufgezogen von einer so liebevollen wie strengen Mutter, lebt in Västerbotten in Nordschweden. Ein von rigorosem religiösem Fundamentalismus geprägter Landstrich, wo ausser Arbeit und Gebet eigentlich alles Sünde war (Fussball, Kartenspiel, Musik, Tanz Theater usw.). Der Vater, ein Gedichte schreibender Waldarbeiter, war tödlich verunglückt, als der Junge erst halbjährig war. In diesem Milieu nun erlebt er als 15Jähriger eine Initiation in den Eros, wie wir sie so noch nie gelesen haben.
Man vergisst, zu atmen
Es ist ein warmer Sonntagnachmittag, als sich Ellen und Per Olov das erste Mal begegnen. Sie, als Sommer-Feriengast allein aus Stockholm gekommen, er, der 36 Jahre jüngere, grossgewachsene (nachmalige Spitzenhochspringer) so hellwache wie schüchterne Per Olov. Sie begegnen sich auf dem Larssonhof, just auf dem Hof jener Familie, der später Stieg Larsson, der Milleniums-Autor, entwachsen wird.
Wie in «Ein anderes Leben» schreibt Enquist von sich stets in der 3. Person. Unendlich behutsam, zart und zärtlich, dabei direkt, doch ohne jede Peinlichkeit, auch mit sanfter Komik, mit fast unerträglicher Intensität und Emotionalität, weiss der Autor diese unglaubliche Szene zu schildern. In einer Sprache grundiert vom religiösen Vokabular. Als Leser vergisst man dabei beinahe zu atmen, blickt ganz ohne Voyeurismus auf dieses so ungleiche wie innige Paar.
Ein Paar, das danach auseinandergeht, ohne Zukunft, aber nicht ohne sich gegenseitig zu danken. Und mit dem Versprechen, gegenüber allen zu schweigen. Der Junge aber weiss nun: «Dies war tatsächlich der Sinn des Lebens. Er war durchgekommen. Dies war das Leben.»
Eine «unauslöschbare Erfahrung»
Neun Jahre später kommt es zu einer äusserlich verhaltenen, doch innerlich herzzerreissenden zweiten Begegnung auf einem Stockholmer Vorortsbahnhof. Und sie bestätigt den enormen Nachhall jenes Sonntagnachmittags bei beiden: «Es war ja ein bisschen verrückt. Du warst erst fünfzehn. Es war ja sozusagen total verboten, und vielleicht war es deshalb so stark. Aber schön. Das war es.» So bilanziert Ellen, bevor sie, um «nicht eingefangen» zu werden, den jetzt 24Jährigen auf immer verabschiedet.
Nach ihrem Tod 1977 erhält er die Einladung zum Begräbnis und auf dem weiten Waldfriedhof singt ihre Nichte jenes Lied, aus dem sie Jahrzehnte zuvor zitiert hatte: «Ich liebe vielleicht weniger als früher, doch mehr als du es je könntest sagen». Für den Jungen bleibt diese Liebe, «wie ein Foetus in seinem Leben, den die Frau ihm eingepflanzt hat». So hat der Autor im Gespräch für «52 Beste Bücher» diese unauslöschbare Erfahrung benannt, welche er jetzt mit Hilfe des «Riesenmuskels Vorstellungskraft» künstlerisch so grossartig gestaltet hat.
Auseinandersetzung mit Kindheit und Tod
Darum herum findet sich nochmals die bohrende Auseinandersetzung mit seiner Kindheit, mit Schreiben, mit seinem fast mörderischen Alkoholabsturz (aus Lebensangst?) und mit dem nahenden Tod. Da gibt es ähnlich eindrucksvolle Szenen, etwa vom lustfeindlichen fundamentalistischen Rigorismus, wo einer Cousine der religiös abtrünnige Verlobte weggenommen wird, und als sie darob irre wird, die Mutter eiskalt kontert: «Besser eine verrückte Tochter im Himmel als eine sündige Tochter in der Hölle.»
Bewegend auch die «Jugendheldin» des Erzählers, jene Tante Valborg, die verkrebst und vereinsamt zum Sterben ins Heimatdorf zurückkehrt und vor der frommen Familie klipp und klar sagt: «Mich kriegt ihr nicht auf die Knie». «Das mit dem Erlöser ist nichts für mich». Beklemmend schliesslich das Gespräch mit vom Tod gezeichneten Freunden über Hilflosigkeit und Ohnmacht, die erwartete Leere und Schwärze jenseits des Flusses.
Was war mein Leben? Was habe ich getan und ebenso wichtig: Was habe ich versäumt? Enquists Schreiben, ist wie stets skeptisch fragend und selbstkritisch, oft auch selbstironisch, immer bildmächtig, sehr persönlich und doch von universellem Interesse. Er stellt sich so leicht wie hartnäckig immer den grundlegenden Themen, den existentiellen Fragen. Eines der ganz grossen Bücher dieses Herbstes.