Zum Inhalt springen
Philipp S.
Legende: Philip S. inszenierte sich in Berlin als Künstler und als Exzentriker, dann verschwand er in den bewaffneten Untergrund. Ulrike Edschmid

Literatur Philip S.: von der Goldküste in den bewaffneten Untergrund

In «Das Verschwinden des Philip S.» beschreibt Ulrike Edschmid den Weg von Philip Sauber, dem Bruder des Rennstallbesitzers Peter Sauber, in den bewaffneten, politischen Untergrund. Er beginnt an der Züricher Goldküste und endet 1975 mit einer tödlichen Schiesserei in Köln.

«Das Verschwinden des Philip S.» nennt Ulrike Edschmid ihren Roman. Ihr ist ein Mensch abhanden gekommen. Nicht irgendeiner, sondern der Mann, den sie liebte, mit dem sie zusammenlebte, mit dem sie für eine bessere Welt kämpfen wollte. Er verschwand langsam, entfernte sich geistig, körperlich, ging in den bewaffneten Untergrund, starb bei einer Schiesserei mit der Polizei.

Buchhinweis:

Box aufklappen Box zuklappen

Ulrike Edschmid: «Das Verschwinden des Philip S.», Suhrkamp Verlag Berlin, 2013.

Bloss weg von der Goldküste

Als er 1967 mit 20 Jahren zum Filmstudium nach Berlin kam, hatte er mit seiner Vergangenheit an der Zürcher Goldküste radikal gebrochen, sogar seinen Namen geändert. Er nannte sich jetzt Philip.

Er sah und inszenierte sich als Künstler, als Ästhet und als Exzentriker. Während seine Kommilitonen politische Agitations- und soziale Dokumentationsfilme herstellten, drehte er den geheimnisvollen, surrealistischen und psychoanalytisch orientierten Film «Der einsame Wanderer» – das Werk eines visuellen Perfektionisten.

Vom Leben als einfühlsamen Regisseur...

Philip S. war ein einfühlsamer Regisseur, der seine Darsteller zu intimsten Selbstoffenbarungen verführen konnte. Sein betörend schöner Film bannte das Unheimliche und Angstmachende in unvergessliche Bilder, er zeugte von der Ratlosigkeit seines Schöpfers. Ästhetisch ein Film von konsequenter künstlerischer Radikalität.

Philip S. verliebte sich in Ulrike Edschmid und ihr Kind, dem er ein hingebungsvoller Ersatzvater wurde. Er engagierte sich in einem der ersten Kinderläden – für ihn eine Form der gelebten Utopie, ein Stück bessere Gesellschaft.

...in den bewaffneten Untergrund

Wenige Jahre später lebte derselbe Philip S – ja war es noch derselbe? – lebte Philip S. unter anderem Namen im Untergrund. Er hatte sich bewaffnet. Auf den Fahndungsplakaten stand: «Werner Sauber, Schweizer Staatsbürger. Achtung. Gefahr. Diese Person ist bewaffnet und wird nicht zögern, das Feuer gegen Sie zu eröffnen»

Ulrike Edschmid
Legende: Philip S., der Mensch, den sie liebte, ist ihr abhanden gekommen: Autorin Ulrike Edschmid. Sebastian Edschmid / Suhrkamp Verlag

Ulrike Edschmid beschreibt genau und knapp die persönliche Entwicklung von Philip S. und von sich selbst. Denn ein ebenso grosses Rätsel wie seine Entwicklung ist die ihrige. Sie hat doch in der Berliner Studentenbewegung dieselben Erfahrungen gemacht wie er. Was hat sie befähigt, kritischer, geduldiger, kompromissbereiter, auf der Seite des Lebens zu bleiben? Ihr Kind? Die Tatsache, dass sie eine Frau ist?

Ulrike Edschmid erklärt explizit nichts, aber sie beschreibt so dicht, dass dem Leser, der Leserin viele mögliche Erklärungen durch den Kopf gehen. Vielleicht gehörte es zur Lebensauffassung von Philip S., sich immer wieder vollkommen neu und frei zu erfinden. Der Wille, seine Identität ganz selbst zu bestimmen, könnte mit tiefen Wünschen der sogenannten 68er zu tun haben. Auch eine gewisse Abenteuerlust mag mitgespielt haben.

Politisch radikal statt künstlerisch

Oder man könnte den Eindruck gewinnen, Philip S habe das Unheimliche, das Angstmachende und seine eigene Ratlosigkeit, die er in seinem Film «Der einsame Wanderer» gestaltet hat, mit einer voreilig radikalen Antwort wegfegen wollen. Sicher hat er die künstlerische Radikalität durch eine politische ersetzt.

Der bewaffnete Kampf könnte ferner als Endpunkt einer Ideologisierung der Weltbilder verstanden werden: Von Klassenkampf, Faschismus, Revolution war die Rede – sehr wenig davon war in der Wirklichkeit zu finden. Die Weltbilder haben sich entwirklicht.

Ulrike Eschmid gibt keine Stellungnahmen, weder zur Gewalt, noch zum Terrorismus, noch zu 68. Wer ideologische Bedürfnisse hat, oder wer, wie der Kritiker des Tages-Anzeigers, schon weiss, dass «die bewegte Zeit um 1968» «tragisch, blutig oder auch ernüchternd endete», der braucht das Buch nicht zu lesen. Wer dagegen Anteil nehmen möchte an der Geschichte von Menschen, die von der Sehnsucht nach dem Umsturz der Verhältnisse gepackt waren, der wird in diesem Roman Stoff zum Miterleben und Nachdenken finden.

Meistgelesene Artikel