Istanbul, 24. April 1915: Mit der Verhaftung der armenischen Elite begann der Völkermord an einer prosperierenden christlichen Minderheit im osmanischen Reich. Diese Minderheit stand schon länger unter Druck. Bereits in den 1890er-Jahren hatte Sultan Abdul Hamid II. in den Ostprovinzen Forderungen nach Reformen mit verheerenden Pogromen beantwortet. 1913 putschten sich die Jungtürken an die Macht. Sie waren als Reformer angetreten, verfielen nun aber einem radikalen Nationalismus.
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1914 traten sie an der Seite Deutschlands in den Ersten Weltkrieg ein und sahen ihre Chance gekommen, «mit den inneren Feinden gründlich aufzuräumen» und «die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten». Auf straff organisierten Todesmärschen abseits von Versorgungsmöglichkeiten wurden mehr als eine Million Menschen Richtung syrische Wüste geschickt. Männer wurden meist gleich ermordet, Frauen und Kinder der Ausplünderung und Gewalt überlassen.
«Überall menschliche Kadaver»
Zuerst wurden die Armenier aus dem Osten des osmanischen Reichs deportiert, dann jene aus den übrigen Gebieten. Davon gibt es historische Zeugnisse – unter anderem aus der Feder des Schweizer Missionars Jakob Künzler. Er leitete ein Spital im südostanatolischen Urfa. Zur Lage fünf Monate nach Beginn der «Verschickungen» schreibt Künzler: «Die Deportationen aus dem Norden dauerten fort. Einmal kamen mehrere hundert Frauen nackt in Urfa an. Männer sah man unter den Deportierten überhaupt keine mehr.»
Urfa war ein Knotenpunkt der Deportationsrouten. Von hier wurden die Menschen in die Wüste getrieben. Da man sie möglichst ohne Aufwand zu Tode kommen lassen wollte, wurden sie meist nicht einmal begraben. In seinem Buch « Im Lande des Blutes und der Tränen » notiert Künzler über die Zustände im September 1915: «Musste man um diese Zeit etwas über Land, so stiess man überall auf menschliche Kadaver, die aller Orten umherlagen.»
Der Preis des Schweigens
Die muslimische Bevölkerung entlang der Routen und eigens dazu angestifteten Banden verübten unbeschreibliche Gräueltaten an den wehrlosen Menschen. Diese versuchten oft, dem Leiden selber ein Ende zu machen. Eine Frau erinnert sich, wie ihre Grossmutter unterwegs zwei kleine Cousinen in den Fluss warf und hinterhersprang: «Eins der Kinder versank gleich im Wasser, aber das andere streckte noch den Kopf heraus. Meine Grossmutter stiess den Kopf wieder zurück, doch das Kind streckte den Kopf wieder hoch.»
60 Jahr lang erzählte diese Frau niemandem, was sie damals erlebt hatte. Dass sie einmal anders hiess, andere Eltern, eine andere Religion hatte, eine andere Sprache sprach. Dass sie zu den Zehntausenden gehörte, die aus den Deportationszügen geraubt worden waren. Und dabei Glück hatte. Ihre neuen Eltern, kinderlose Muslime, behandelten sie anständig. Aber sie zahlte den Preis des Schweigens. Bis heute ist der Genozid an den Armeniern in der offiziellen Türkei ein Tabu.
«Wer gelitten hat, kann nicht verstehen»
Auch für ihre Enkelin, die streitbare Anwältin Fethiye Çetin, war das, was ihr die Grossmutter im Alter dann doch offenbarte, schwer zu verdauen. Zu sehr lief es der Ideologie entgegen, mit der sie aufgewachsen war. 30 Jahre wartete sie, bis sie 2004 den Roman « Meine Grossmutter » veröffentlichte. Auch wenn es alte Wunden aufriss und an alte Schuld und Scham rührte, wurde das Buch in der Türkei zum Bestseller.
Ähnlich aufwühlend ist der 2013 auf Deutsch erschienene Roman « Buch des Flüsterns » des rumänischen Lyrikers und ehemaligen Spitzenpolitikers Varujan Vosganian. Er ist ein Enkel von Überlebenden. Schon als Kind erhielt er von diesen den Auftrag, die Geschichte des rumänischen Volkes festzuhalten: «Wer gelitten hat, kann die Geschichte nicht so erzählen, wie sie sich zugetragen hat, sondern nur die eigene Geschichte. Wer gelitten hat, kann nicht verstehen.» In Vosganians Roman wird das Verstehen möglich durch ein Geflecht von Geschichte und Geschichten, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart immer wieder berühren.