Natürlich ist es politisch inkorrekt, das Aussehen einer Künstlerin in Verbindung zu ihrem Werk zu bringen. Bei Clarice Lispector machen aber alle eine Ausnahme. Als sie 1977 starb, war sie längst zur Sphinx von Rio geworden. Ihr Konterfei prangte auf brasilianischen Briefmarken. Der Dichter Ferreiro Gullar erinnerte sich: «Ihr Anblick war ein Schock. Mit ihren grünen Mandelaugen und ihren hohen Wangenknochen wirkte sie wie eine... faszinierende Wölfin.»
Eine fremde auf Erden
Clarice Lispector war eine Fremde auf Erden: Sie gab wenig von sich selbst preis. Wer immer versuchte, diese unbeschreibliche Künstlerin zu charakterisieren, griff nach Superlativen. Doch ihre engsten Vertrauten beharrten darauf, «dass sich das auffälligste Merkmal ihrer Persönlichkeit – ihre Aura des Geheimnisvollen – jeglicher Beschreibung entzog», wie der amerikanische Biograph Benjamin Moser schreibt.
Die Familie Lispector zog nach dem Tod der Mutter vom Land in die Stadt nach Rio de Janeiro. Dort ging Clarice zunächst zur Schule, studierte dann Jura und arbeitete später als Journalistin. In diese Zeit fielen auch ihre Schreibanfänge. In kurzem Abstand erschienen Romane und Erzählungen. 1943 heiratete Lispector einen brasilianischen Diplomaten. Sie lebte mit ihm in Rom, einige Jahre in Bern und schliesslich in den USA.
Bern hatte die Künstlerin sehr befremdet. «Die Schweiz», schrieb sie 1946 an ihre Schwester, «ist ein Friedhof der Sinneseindrücke.» Der Kontrast zu Lispectors Rio de Janeiro war übergross. Dies führte die Autorin zur Diagnose: «In dieser Stadt fehlt ein bisschen der Teufel.»
Der verblüffende Erstling
Das Romandebüt «Nahe dem wilden Herzen» der erst 23-Jährigen 1943 war eine Sensation. Der Roman kommt fast ohne Handlung aus. Weibliche Stimmen treten als Medien der Wahrnehmung und Vermittlung auf. Lispector stand damit in der Nachbarschaft von Proust, Joyce und Virginia Woolf, die den inneren Bewusstseinstrom der äusseren Aktion bevorzugt haben.
Es fehlte um 1950 nicht an Vorwürfen, Lispectors Texte mangle es an Sozialkritik und demnach an Realitätsbezug. Im Roman werden nur ein paar Eckpfeiler im Leben der Protagonistin Joana sichtbar. Wir sehen sie zu Beginn als Kind. Dann stirbt der Vater. Joana wächst bei einer Tante auf und heiratet Otavio. Dieser verlässt Joana, um mit Lidia anzubändeln. Eine, in der Tat, wenig spektakuläre Handlung.
Sprache als Protagonistin
Dieser verblüffende Erstling ist in erster Linie ein Sprachkunstwerk. Die Sprache selbst ist die Protagonistin. Dies stellt der hoch artistische Anfang unter Beweis:
«Die Maschine des Vaters hämmerte klack-klack...klack-klack-klack... Die Uhr erwachte ohne grosses Aufheben mit tin-tan. Die Stille schleppte sich schschschschschsch dahin. Was sagte der Kleiderschrank? Kleider-Kleider-Kleider. Nein, nein. Zwischen der Uhr, der Schreibmaschine und der Stille hörte ein Ohr zu, gross, rosafarben und tot. Die drei Geräusche waren durch das Tageslicht miteinander verbunden und durch das Rascheln der kleinen Blätter am Baum, die sich leuchtend eins am anderen rieben.»
So fügte die damals erst 17-jährige Debütantin Clarice Lispector der Moderne ihre höchst eigenständige Stimme hinzu. In «Nahe dem wilden Herzen» konzentrierte sie sich darauf, den Reflexionen Joanas im Wechselbad der Gefühle bis ins «wilde Herz» hinein Kontur zu geben.
Gewiss, mit Brasilien hat dieser Roman äusserlich so wenig zu tun, wie Kafkas Prosa mit dem alten K.+K. Österreich. Hingegen verbindet Lispector mit Kafka, wie sie die Tiefendimension der Aussenwelt mit derjenigen der Innenwelt der Figuren amalgamiert. So entsteht ein einzigartiges Echolot der «Condition Humaine».