Als Vika und Ruth noch klein waren, zogen ihre Eltern von Deutschland nach Argentinien. Hier, im Exil, realisierten die beiden Mädchen, dass sie sich eigentlich nur aufeinander verlassen konnten. Denn die Mutter wurde in der Fremde depressiv; der Vater flüchtete in Arbeit und Affären und die Gleichaltrigen sprachen kein Deutsch: «Wir schlossen einen Pakt, ohne darüber ein Wort zu verlieren», heisst es an einer Stelle.
Und weiter: «Dass wir zusammenblieben, ergab sich von selbst, als hätten wir uns nicht anders entscheiden können. Für uns war das selbstverständlich. Eine Naturgegebenheit. Wir waren Töchter; und wir blieben Töchter. Wir waren Schwestern, und wir blieben Schwestern.»
Kraft aus der Beziehung
Die Art und Weise, wie Eberhard Rathgeb diese Schwestern-Gemeinschaft darstellt, geht ans Herz: Nie wird er sentimental oder kitschig, und doch schafft er es aufzuzeigen, wie viel Mut und Kraft die beiden Frauen aus dieser Beziehung schöpfen.
Im Roman begegnen wir Vika und Ruth im hohen Alter: Sie haben sich in einer schönen Wohnung in Buenos Aires eingerichtet und verlassen ihren «Bunker», wie sie es nennen, kaum noch. Jeder Tag ist durchstrukturiert. Angefangen beim Frühstück, das sie stets am selben Platz einnehmen, über das gemeinsame Radio-Hören, bis zur ausführlichen Rückschau auf das vierhändige Leben. «Sie waren Wühlmäuse, unablässig wälzten sie die Vergangenheit wie Erde um, unterhöhlten die Gegenwart, und auf diese Weise verloren die Tage die Schwere der Eintönigkeit und wurden leichter.»
Im Dialog bleiben
Anders als langjährigen Ehepaaren scheint den beiden Frauen der Gesprächsstoff nie auszugehen. Liebevoll bleiben sie im Dialog und erwecken Erinnerungen zum Leben. So erhalten wir Einblick in eine sehr unkonventionelle Doppel-Biografie. Mit dreissig zum Beispiel schockierte Ruth ihre Eltern mit der Nachricht, sie ziehe nach New York. Vika folgte ihr zwei Jahre später. Dort hatten beide einen guten Job, reisten viel und genossen es, so ganz anders zu sein als ihre verheirateten Altersgenossinnen. «Wir fielen auf», wird Vika später sagen, und Ruth wird denken: «Was war dabei, Hand in Hand mit der Schwester durch die Strassen zu gehen. Wir waren frei.»
Der konventionelle Blick
Die meisten Leserinnen und Leser schauen aus einer traditionellen Paar-Perspektive auf dieses Duo und lassen sich unweigerlich herausfordern: Wie schaffen es die zwei, auch nach Jahrzehnten noch glücklich zu sein? Birgt dieses Lebensmodell sogar Vorteile? Dürfen wir dem Frieden trauen? Oder bleibt nicht auch vieles auf der Strecke, wenn sich Frauen gegen Männer-Beziehungen entscheiden?
Eberhard Rathgeb wirft Fragen auf, liefert aber keine Antworten. Und genau das macht die Qualität seines Romans aus. Dass er, als Erzähler, nie in Versuchung gerät, diese Schwesternliebe zu kommentieren, sondern es uns überlässt, was wir von diesen Schilderungen halten wollen.
Eigene Exil-Erfahrung
Dem Roman liegt eine persönliche Exil-Erfahrung von Eberhard Rathgeb zugrunde: Er selber war in Argentinien zur Welt gekommen, dann im Vorschulalter nach Deutschland gezogen und 2011, für einen Besuch, erstmals nach Jahrzehnten wieder zurückgekehrt. Die Begegnung mit dortigen Verwandten und das spontane Erkennen des Himmels über Buenos Aires waren Bausteine auf dem Weg zu diesem geglückten Erstling. «Die Geschichte wollte erzählt werden», sagt er bescheiden.
Und so wurde aus dem Kulturjournalisten und ehemaligen FAZ-Redaktor im Alter von 54 Jahren ein literarischer Schriftsteller. Zu Recht wählte die aspekte-Jury «Kein Paar wie wir» zum besten deutschsprachigen Début des Jahres. Begründet hat sie ihren Entscheid u.a. mit dem Satz: «Poetische Stille und gedanklicher Eigensinn gehen in diesem Roman eine schöne Allianz ein.»