«Der Junge, den es nicht gab» ist ein dokumentarisch unterfüttertes Stück Literatur. Es behauptet jedoch entschieden die Vormacht der Fiktion über die sogenannte Realität. 1918 ist ein schicksalhaftes Jahr: es ist der Kulminationspunkt der Spanischen Grippeepidemie. Der Vulkan Katla verdunkelt den Himmel mit seinem Ascheauswurf. Island wird unabhängig von Dänemark. Held Mani, der eltern- und mittellos bei einer Urgrosstante in Rejkjavik Unterschlupf gefunden hat, infiziert sich mit der Grippe. Aber er überlebt.
Ein paar Kronen springen heraus für Manis Dienste als schwuler Strichjunge. Immerhin. Der Autor Sjón – mit vollem Namen heisst er Sigurjón Birgir Sigurðsson – vermerkt ganz am Schluss, dass er einen schwulen Onkel gehabt habe, Bosi, einen Fischer und Trinker. Sjóns literarische Figur Mani könnte also eine kleine Hommage sein an ein reales Vorbild. Wenn es nicht eine falsche Fährte von Sjóns gewieftem Erzähler im Buch ist.
Das Kino überstrahlt das Elend
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Mani liebt das Kino über alles. Durch seine Augen nehmen wir teil am Aufschwung des Stummfilms mit Orchesterbegleitung. Mani sieht in den beiden Rejkjaviker Kinos, wie die neue magische Kunst Menschen verzaubert. Die Schauspielerin Jeanne Roques (1889-1957) alias «Musidora» ist die Heldin der Stunde im Film «Die Vampire».
Sjón setzt blutiges Sekret von isländischen Grippekranken in Analogie zum Blutmotiv rund um die erste Vampirdarstellerin der Kinogeschichte. Grippeviren ist man ähnlich wehrlos ausgeliefert wie Vampiren. Und was sind Vampire anderes als Todesboten. Dieser Roman ist eine einzige Todesallegorie.
Auftritt von Göttin Sola
Gegenstück dazu ist Sólborg Guđbjörnsdottir, genannt Sola. Die Tochter eines reichen Unternehmers ist eine emanzipierte, junge Frau der ersten Stunde. Der Erzähler umgibt sie mit einer Aura, die es in sich hat. «Sie erscheint auf dem Felsvorsprung wie eine Göttin, dem tiefsten Meeresgrund entstiegen, ihre Silhouette schwarz vor dem lodernden Himmel…»
Die Doppelgängerin von «Musidora» ist mit ihrem Motorrad an der Felskante eines Steinbruchs vorgefahren. Sie «zieht ein rotes Tuch aus ihrer Lederkluft, wirft es über die Felskante und schaut zu, wie es langsam zu Boden segelt.» Unter ihren Füssen, am Boden des Steinbruchs, ist Stricher Mani eben mit einem Kunden zu Gange. Dies ist zweifellos die stärkste filmreife Szene des Romans.
Romeo und Julia in Island
Sjón sorgt dafür, dass diese Bilderuptionen nicht in Kitsch ausufern oder in visuelle Effekthascherei. Die Akzente sind wohldosiert. Romeo und Julia werden am Ende nicht zusammenfinden. Wie im richtigen Leben, ist man versucht zu sagen.
Aber Mani und Sola sichern sich je ihre innere Freiheit. Und zwar in Zeiten, in denen Lebenslinien nicht so verlaufen wie allenfalls im Traum. Sjóns neuer Roman drückt im Übrigen aus, was für jede Krise gilt: Das volle Leben geht angesichts der Katastrophe weiter.
Temporärer Tod des Kinos
Wir erleben mit Mani den Tag der vorübergehend letzten Kinovorführung in Rejkjavik. Er trotzt der Seuche und er kann sich mit Solas Hilfe auch aus den Fängen der Justiz befreien, die ihn wegen «Unzucht» belangen wollte.
Wir verdanken Sjón einen farbigen historischen Roman jenseits schnöden Realismus. Betty Wahl hat das Werk schwerelos ins Deutsche übertragen. Die Geschichte findet auf gerade einmal 150 Seiten statt. Aber sie ist mit zahlreichen Einschlüssen durchsetzt, die ihr Geheimnis erst nach der zweiten oder dritten Lektüre preisgeben. Dies ist gut so.