Es ist starker Tobak, was der Wiener Kulturpublizist Ulrich Weinzierl in seiner druckfrischen Monographie enthüllt: Stefan Zweig war nicht nur ein Erotomane von Graden, wie Weinzierl nachweist, ein unersättlicher Frauenverbraucher, der auch vor schwulen Intermezzi hinter Praterbüschen nicht zurückschreckte. Nein, der Autor von Welterfolgen wie der «Schachnovelle» und den «Sternstunden der Menschheit» frönte auch einem Laster, das bis heute mit dem Nimbus des Kläglich-Verächtlichen behaftet ist: Stefan Zweig war Exhibitionist.
Thomas Mann wusste von Zweigs Geheimnis
«Gerüchte dieser Art hat es immer gegeben», erklärt Ulrich Weinzierl: «Ich wollte wissen, was dahinter steckt.» Einer, der vom Zweig‘schen Selbstentblössungstrieb zumindest vom Hörensagen her gewusst hat, war Thomas Mann. «Stefan Zweig soll Exhibitionist gewesen sein», hält der Autor der Buddenbrooks 1954 in einem Brief an den Berliner Arzt Paul Orlowski fest: «Ich gestehe, dass mein Verständnis gerade vor dieser Passion halt macht, während es sonst ziemlich weit reicht.»
Beiträge zum Thema
Ulrich Weinzierl wollte wissen, was hinter den jahrzehntelang kolportierten Gerüchten steckt: In seinem Buch gelingt ihm nun der Nachweis, dass Stefan Zweig auf jeden Fall bis zum Jahr 1915, wahrscheinlich aber auch später, tatsächlich regelmässig durch den Wiener Stadtpark, aber auch den Schönbrunner Schlosspark zu streunen pflegte und Passantinnen mit der Entblössung seines Geschlechtsteils erschreckte.
«Schauprangertum» nannte der Schriftsteller seine Passion, die, wäre sie zu seinen Lebzeiten enthüllt worden, seine bürgerliche Existenz ebenso zuverlässig ruiniert hätte wie seine literarische Reputation. Es war ein Leben voller Angst, das der gefeierte Schriftsteller jahrelang zu führen gezwungen war.
Neues Licht auf Zweigs Werk
Andererseits sorgte gerade die Gefahr des Entdecktwerdens für zusätzlichen Nervenkitzel auf Zweigs selbstentblössenden Streifzügen. Die sexuellen Abenteuer, zu denen er sich immer wieder hinreissen lasse, seien ihm «doch nur wertvoll durch ihre Gefahr», schreibt der Verfasser der «Welt von Gestern» in seinen Tagebüchern, in denen er allerdings nur verschlüsselt Auskunft gibt über seine geheime Passion.
Nach den Enthüllungen Ulrich Weinzierls erscheinen manche Details im Zweig‘schen Oeuvre nun in vollständig neuem Licht. Man versteht zum Beispiel besser, warum es in den psychologisch raffinierten Romanen und Novellen des 1881 geborenen Wieners nur so wimmelt von brüchigen Charakteren, die von zerstörerischen Leidenschaften an den Rand des Abgrunds getrieben werden.
Eine diskrete wie offenherzige Studie
Am deutlichsten hat Stefan Zweig in seiner Novelle «Phantastische Nacht» von seinem eigenen Leiden berichtet, in verfremdeter Form natürlich: An einem Juniabend 1913, so die Handlung, lässt sich ein müssiggängerischer Baron im Wiener Prater von einer rachitischen Dirne in dunkles Buschwerk locken, wo er zum Erpressungsopfer zweier lauernder Komplizen wird... Ähnliches dürfte Stefan Zweig im Wiener Schönbornpark passiert sein, wie Ulrich Weinzierl in seiner Monographie spekuliert, allerdings in exhibitionistischem Zusammenhang.
73 Jahre nach dem Suizid des Erfolgsschriftstellers im brasilianischen Exil arbeitet Ulrich Weinzierl in seiner zugleich diskreten wie gnadenlos offenherzigen Studie nun die psychodynamischen Mechanismen heraus, die Stefan Zweig auch in künstlerischer Hinsicht antrieben. Am Ende seiner Monographie zitiert Weinzierl, was der Schriftsteller in seinem Casanova-Essay über den venezianischen Verführer zu sagen wusste: «Die Unsterblichkeit weiss nichts von Sittlich und Unsittlich, von Gut und Böse... Moral ist ihr nichts, Intensität alles.» Stefan Zweig wusste, wovon er da schrieb.