«Das grössere Wunder» ist eine Mischung aus Abenteuer-, Entwicklungs- und Liebesroman. Zuweilen erinnert die Geschichte auch an ein Märchen. Im Mittelpunkt steht Jonas, der früh von seiner alkoholkranken Mutter wegkommt und gemeinsam mit seinem behinderten Zwillingsbruder Mike bei seinem Schulfreund Werner aufwachsen darf.
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Grenzenlose Freiheit unter einer Bedingung
Dessen Grossvater Pico – ein reicher Mann mit mafiösem Hintergrund aber grossem Herzen – nimmt die Buben unter seine Fittiche. Er bietet ihnen eine unbeschwerte Kindheit und garantiert ihnen auch im Erwachsenenleben eine schier grenzenlose Freiheit. Er ist bereit, all ihre Sehnsüchte und Ideen zu finanzieren, stellt aber nur eine Bedingung: «Bemüht Euch die Menschen zu werden, die zu werden Euch möglich ist.»
Jonas nimmt Picos Worte ernst, lotet seine Grenzen aus und sucht von Japan bis Madagaskar, von Norwegen bis Rom nach dem wahren Sinn seiner Existenz. Erst eine Frau vermag seine Rastlosigkeit zu bändigen: Marie, in die er sich in Südamerika grenzenlos verliebt. Doch als sie ihn verlässt, hat er sich bereits für die Mount Everest Expedition angemeldet; nun trägt er im Rucksack auch den Liebeskummer mit.
So plastisch, dass es fast weh tut
Acht Jahre hat Thomas Glavinic an diesem neuen Roman gearbeitet. Dreimal musste er von vorne beginnen, bis er endlich die richtige Dramaturgie gefunden hatte. Erzählt wird die Geschichte auf zwei Ebenen. Die Rahmenhandlung bildet die Beschreibung der Mount Everest-Expedition; dazwischen blendet der Autor immer wieder zurück ins bisherige Leben von Jonas.
So kann man sich in den biografischen Kapiteln jeweils von den Strapazen am Berg erholen. Denn die Schilderungen dieser Anstrengung lesen sich so plastisch und eindringlich, dass man zuweilen fast körperlich mit diesem jungen Abenteurer mitleidet: «Sein Husten marterte ihn, die Rippen waren nichts als eine brüllende Wunde, ein Teil seines Körpers, der sich gegen ihn gewandt hatte, aber am schlimmsten empfand er die Erschöpfung, diese totale Erschöpfung, die letzte Station vor der Hilflosigkeit.»
«Ich bin ein viel zu fauler Mensch»
Es sind solche Passagen, die diesen Roman zum Erlebnis machen. Und man ist sich sicher: Wer so authentisch und packend beschreiben kann, muss zweifellos selber einmal durch diese Hölle im Himalaya gegangen sein. Aber weit gefehlt: «Ich schaffe es ja nicht einmal ohne Lift in den zweiten Stock», schmunzelt Thomas Glavinic und gesteht: «Ich bin ein viel zu fauler Mensch.»
Die Höhenbergsteigerei habe ihn aber schon seit kleiner Junge fasziniert. Stundenlang habe er im Fernsehen jeweils Reportagen über Extremsportler wie Reinhold Messner verfolgt. «Mich beeindrucken Leute, die sich eine Sache zutrauen, die eigentlich grösser ist als sie, und von der sie nicht wissen, ob sie dabei nicht ihr Leben lassen werden.»
Der Freund als Vorbild
Sein Jugendfreund Gerfried Göschl gehört zu diesen Mutigen: Er hat den Mount Everest im Alleingang und ohne künstlichen Sauerstoff geschafft. Von ihm hat Thomas Glavinic viele wichtige Informationen für sein Buch erhalten. Leider konnte er es ihm nicht mehr zum Lesen geben: Göschl verschwand im Frühling 2012 beim Versuch der ersten Winterüberquerung eines Achttausender.
Jonas, der Romanheld, hat da mehr Glück: er überlebt seine Expedition, nur knapp. Und hat endlich begriffen, was «das grössere Wunder» ist.