Die Kernhandlung von «Bajass» ist schlank und rasch erzählt: Der Bauer und die Bäuerin des abgelegenen Gandhofs sind beim Holzen im Wald mit dem Spalthammer erschlagen worden. Gauch ermittelt. Das Dorf weiss nichts oder will nichts wissen. Zähes Ringen mit minimalen Indizien.
Nur der Totengräber gibt schliesslich aufgrund einer Fotografie einen Hinweis: auf einen illegalen Kinderknecht, der einst bei den Gandbauern wie ein Sklave gehalten wurde, italienisch sprach und seiner Kapriolen und Grimassen wegen «Bajass» genannt wurde.
Der Zufall und sein Gespür führen Gauch auf ein Auswandererschiff nach Amerika. Der junge Mann, «Bajass», befindet sich tatsächlich unter den Ärmsten der Armen auf dem Zwischendeck der «Liberté». Wie es ausgeht für Gauch und für den Jungen, kündigt sich früh an, bleibt aber trotzdem unkonventionell und überraschend.
Melancholischer Realist als Hauptfigur
Mehr Raum als die eigentliche Handlung nehmen in diesem Roman Schilderungen, Beschreibungen und Stimmungsbilder ein. In einer für Prosa schier vorbildlosen Verdichtung und mit beinahe schmerzhafter sprachlicher Präzision erfasst Steimann die himmeltraurige, kleinbäuerliche Lebenswelt und die matschige voralpine Frühjahrslandschaft. Desgleichen die schwere Gemütslage der Auswanderer, die alles aufgegeben haben – und doch nicht wissen, ob sie bei der Ankunft in Amerika überhaupt eingelassen werden.
Beherrscht werden der Roman und seine Hauptfigur, der schwerkranke Albin Gauch, von der Melancholie. Aber Gauch hat helle Momente: In einer kurzen Vision zieht er mit Zigeunern durch fremdes Land. Er liebt es, stundenlang in strudelndes Wasser zu blicken. Andererseits betrachtet und analysiert er die Welt mit der illusionslosen Klarheit des Atheisten und Realisten. Eine grandiose Spannung.
Eine Sprache wie reinste Poesie
Bloss 128 Seiten stark ist «Bajass». Aber Steimann entfaltet so viele Welten, Schicksale und Bilder in diesem Roman, dass er tausendseitig scheint. Der Reichtum kommt vom immensen Wortschatz des Autors: In jedem erdenklichen Fachgebiet ist er heimisch, sei es Holzfällen, Obduktion, Schiffsbau oder Bekleidung.
Dazu kommt, dass Steimann seine stark helvetisch gefärbte Schriftsprache 100 Jahre zurückversetzt, in die Zeit der Erzählung um 1910. Für Maultrommel benutzt er das veraltete Wort «Judenharfe», statt Flugzeug war damals «Aeroplan» gebräuchlich und das Sparbuch der Gandbauern ist von der «Leih- und Hülfscassa Suhrenamt». Praktisch jeder Satz ist getränkt mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
Der unerträgliche Gegensatz von arm und reich
Diese fremd-vertraute Sprache zwingt einem zu aufmerksamer Lektüre, belohnt einen dafür mit einem Sog von Klang und Rhythmus. Die Poesie genügt aber nicht sich selber. Sie drückt die Liebe zur erzählerischen Präzision aus und nimmt letztlich, ganz ohne Verbrüderungsromantik, Partei für die Chancenlosen dieser Welt.
Die grösstmögliche Verdichtung der in diesem Roman ringenden Kräfte steckt aber im vollen Namen des Kriminalisten: Albin Justus Hektor Gauch. Wörtlich «der Weisse, Reine» (Albin), «der Gerechte» (Justus), «der Heldenhafte» (Hektor) und «der Narr» (Bedeutung des Dialektworts «Gauch»).