Der Jahrmarkt der Eitelkeiten ist keine befristete Veranstaltung. In den Tagebüchern von Fritz J. Raddatz nicht – und nicht in der Welt, von der sie berichten. Drinnen, da ist die Innensicht des Fritz J. Raddatz. Draussen, da ist Kulturbetrieb. Und der hat es in sich. Eitel sind alle, die hier auftreten, die ihren Geschäften nachgehen und gute Beziehungen pflegen, atemlos bei der Arbeit an der eigenen Bedeutung. Das weiss man. Kann man wissen. Nichts Neues insoweit. Aber was passiert, wenn da einer radikaler ist als alle anderen? Grenzenlos eitel, radikal selbstsüchtig? Dann wird es spannend.
Raddatz, Dandy und Melancholiker
Fritz J. Raddatz ist dieser Radikale. Raddatz, der Dandy und Melancholiker. Er war Lektor bei Volk und Welt in der DDR, dann junger Vize-Chef beim Rowohlt Verlag, Kulturchef bei der Zeit in Hamburg, für Jahre ihr Kultur-Korrespondent – eine Instanz. Einer, um den sich viel drehte im Betrieb der Meinungen. Eine Wirkungsmacht in Verlag und Feuilleton, voller Schärfe und Eleganz. Sein Markenzeichen: FJR.
Und dann – nichts mehr. Nichts. Davon handeln jetzt die Tagebücher, die Notizen des letzten Jahrzehnts: vom «nicht mehr», vom lange schon vollzogenen Bedeutungsverlust, vom Leben danach.
Zu spüren ist der Umschlagspunkt im ersten Band der Jahre 1982-2001. Er, der mit der «gesamten Moderne per Du» war, wie er gern sagt, der die grossen Gespräche führt, mit Borges oder Lévi-Strauss, mit Saul Bellow oder Arthur Miller, wird kalt gestellt. Eine kleine Unachtsamkeit in einem allzu schnell geschriebenen Text ist der Grund. Für Raddatz ist es ein Vorwand. Man will ihn loswerden, weil er stört. Zu viel Primadonna, zu viel Allüren, einfach zu viel.
Die grosse narzisstische Kränkung
Das ist alles lange her. Aber die Nachwirkungen dauern bis heute. Raddatz war 54 damals, jetzt ist er 82 und alles ist Nachspiel. Nachspielzeit, die einfach nicht enden will. Das Personal ist noch da, wie Grass und Hochhuth, oder inzwischen verstorben, wie Rühmkorf, Kempowski, Hubert Fichte, Susan Sontag.
Aber die Haltung ist eine andere: «Ich bin eine optische Täuschung. Eine Attrappe mit Hörgerät», der Eintrag im Oktober 2006. Oder: «Ich bin eine Art Trotzki, dessen Anwesenheit wegretuschiert wurde.» Alles geht weiter, einfach so, aber er ist nicht mehr dabei. Das ist die grosse narzisstische Kränkung.
Wenn die Einladungen ausbleiben
Die Gesellschaft der Klugen und Schönen, der Reichen und Wichtigen, das Karussell von Geist, Macht und Bedeutung: vorbei. Vorbei die Gesellschaften bei den Augsteins und Feltrinellis, die Partys und Empfänge. Geblieben sind drei Wohnsitze in Hamburg, Sylt und Nizza. Geblieben ist der Nobelpreisträger, zu Gast bei Grass. Aber auch diese schwierige Freundschaft aus Jahrzehnten ist ermüdet. Irgendwie matt, freudlos.
Die Einladungen bleiben aus, die Aufträge auch, für Artikel, Reden, Essays. Ein paar Begegnungen gibt es noch und treffende Beobachtungen: «Daumier-Gesichter», sieht er bei einem Treffen mit Habermas, Enzensberger und Michael Krüger. Helmut Schmid ist der «Ersatz-Hindenburg für die lieben Deutschen».
Ein Dokument des Verschwindens
Alles ist entwertet. Es berührt, zu lesen, wie Kunstwerke, Bücher und Autoren für diesen grossen Kritiker ihren existenziellen Wert einbüssen, wie physische und psychische Kräfte nachlassen. Auch die sexuelle Attraktivität, die der homosexuelle Raddatz radikal gegen sich selbst offenbart. «Wie geht man ab?», fragt er, denkt über den Freitod nach und ist dann doch einfach ratlos.
Eine grosse Traurigkeit liegt über diesen Aufzeichnungen. Diese Tagebücher sind ein radikales Dokument des Alters. Ein Dokument des Verschwindens.