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Literatur und Legislatur Ferdinand von Schirach – der Mann, der von Schuld erzählt

Vom Strafverteidiger zum Starautor: Ferdinand von Schirach erzählt Geschichten, wie sie der Gerichtssaal schreibt.

In seinem allerersten Erzählband «Verbrechen» (2009) erzählte Ferdinand von Schirach eine verstörende wahre Geschichte: An einem heissen Sommertag findet ein Volksfest auf dem Land statt. Der Alkohol fliesst in Strömen. Acht Männer aus der Dorfkapelle spielen zum Tanz auf und bechern ihren Durst weg. Wie im Delirium fallen sie spätabends gemeinsam über eine junge Serviceangestellte her und vergewaltigen sie mehrfach hinter der Tribüne.

Einer der Gruppe alarmiert anonym die Polizei. Diese findet das Opfer später ohnmächtig und schwer verletzt unter einem Bretterverschlag.

«Damals habe ich meine Unschuld verloren»

Es war der erste Fall, der dem frisch gebackenen Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach 1994 direkt nach dem Studium übertragen worden war. Er erlangte einen Freispruch für die Täter, weil sie wegen ihrer Uniform als Individuen nicht wirklich überführt werden konnten. Im Zweifel für die Angeklagten.

«Damals habe ich meine Unschuld verloren», sagt Ferdinand von Schirach im Rückblick. Noch heute verfolgt ihn das Bild des weinenden Vaters, der damals den Glauben an die Justiz verloren hatte: Warum liess man jene Männer einfach laufen, die das Leben seiner Tochter zerstört hatten?

Seither weiss Ferdinand von Schirach, dass vor Gericht nicht immer die Gerechtigkeit siegt. Zwischen Schuld und Unschuld verläuft ein schmaler Grat.

Selbstbestimmt Sterben: Ferdinand von Schirachs «Gott»

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Acht Männer und Frauen sitzen um einen Tisch herum und schauen in die Kamera. Sie tragen Bürokleidung.
Legende: SRF

SRF 1 zeigt am 23. November ab 20.05 Uhr den Film «Gott» nach Ferdinand von Schirachs gleichnamigen Theaterstück. Thematisiert wird darin die Frage, ob ein gesunder Mensch selbstbestimmt Sterben darf.

Richard Gärtner, ein 74-jähriger Witwer möchte sein Leben beenden, obwohl er völlig gesund ist. Nach dem Tod seiner geliebten Frau hat das Leben für ihn einfach seinen Sinn verloren. Soll er ein todbringendes Medikament erhalten?

Diese Frage verhandelt im Film ein Ethikrat. Im Anschluss kann das Publikum per Telefon und Onlinevoting seine Stimme abgeben. Soll Richard Gärtner das Medikament bekommen, Ja oder Nein?

SRF nimmt die Eurovisionsausstrahlung von «Gott» zum Anlass für einen Themenabend. Im Anschluss an den Film diskutiert Barbara Lüthi in einem «CLUB Spezial» mit ihren Gästen das Votum des Publikums und die ethischen Argumente für und gegen den selbstbestimmten Tod eines gesunden Menschen.

Dieses Thema treibt ihn auch in seinen literarischen Werken um. Sei es in den Erzählungen, in den Romanen oder in den Filmen oder Theaterstücken: Immer erzählt er uns von Menschen, die sich in irgend einer Form schuldig machen.

«Es ist die Situation, die das Verbrechen gebiert», ist Ferdinand von Schirach überzeugt. Wie oft hat er Menschen erlebt, die im falschen Moment am falschen Ort waren oder die aus der Verknüpfung von schlechten Umständen zu Täterinnen oder Tätern wurden.

Die meisten Angeklagten sind schuldig

Schon als Jugendlicher wollte Ferdinand von Schirach eigentlich nur eines: Schriftsteller werden. Aber die irrationale Angst vor dem Verhungern habe ihn dazu getrieben, zuerst einen Brotberuf zu lernen.

Sein literarisches Talent sei ihm dann als Strafverteidiger sehr zugutegekommen: «Schon da habe ich eigentlich nichts anderes gemacht, als Geschichten zu erzählen.»

Das liege daran, «dass die meisten Angeklagten ohnehin schuldig sind». Das sei auch dem Gericht klar.

Buchhinweis

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Ferdinand von Schirach: GOTT. Luchterhand Verlag, 2020.

«Meistens ging es also nicht darum, die Unschuld zu beweisen, sondern ich musste plausibel machen, warum es zur Tat gekommen ist», so von Schirach. In seiner langen juristischen Praxis habe er gelernt, dass das Urteil letztlich uninteressant sei: «Es ist die Geschichte dahinter, die das Leben gross und reich macht.»

Hier steckt auch der Nerv seines Erfolgs als Schriftsteller: Ferdinand von Schirach kennt den Prozessalltag à fond und verfremdet seine juristischen Erfahrungen geschickt zu packender Literatur. Dabei spielt er virtuos mit den Formen. Im Moment verwandelt er die Bühne zu einer Abstimmungs-Arena.

Aber er denkt schon an nächste Projekte: einen Fernseh-Film zum Beispiel, der auf dem einen Kanal die Optik des Täters zeigt und parallel dazu auf einem anderen Kanal jene des Opfers. Ferdinand von Schirach wird noch für manche Überraschung gut sein.

«‹Gott› ist eine Diskussion über die Verfassung»

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Legende: IMAGO Michael Wigglesworth

Mit der TV-Inszenierung « G ott » bringt Ferdinand von Schirach das brisante Thema Sterbehilfe zur Abstimmung: Das Publikum soll entscheiden, ob ein gesunder Mensch das Recht haben soll, vom Arzt ein todbringendes Medikament verabreicht zu bekommen.

SRF: Ist es nicht fahrlässig, einer Horde Laien ein solches Urteil zu überlassen, bei dem es sprichwörtlich um Leben und Tod geht ?

Ferdinand von Schirach: Bei meinem früheren Stück «Terror» versetzte ich die Zuschauenden tatsächlich in die Rolle der Richterinnen und Richter. Jetzt ist das Setting ganz anders: Bei «Gott» debattiert nicht ein Gericht, sondern der Ethikrat. Dort sitzen juristische Laien. Und das ist so auch richtig: denn wir können diese Fragen nicht einfach nur in die Hände von Experten legen.

Die Argumente werden an diesem Abend aus unterschiedlichsten Blickwinkeln vorgetragen - das ist der Sinn dieses Stückes.

Was interessiert Sie als Schriftsteller und was als ehemaligen Strafverteidiger am Setting einer Abstimmungs-Arena?

Das Theater war in seiner ursprünglichen Form ein Diskussionsforum. Man sah gemeinsam ein Stück über ein gesellschaftlich relevantes Thema und redete darüber. Auch die Strafprozesse selbst waren angelegt wie Theaterstücke: Im alten Griechenland richteten 2000 Richter zusammen. Es gab keine Paragraphen, auf die man sich berief, sondern zwei Parteien standen einander gegenüber und jeder brachte seine Argumente vor.

So gesehen mache ich mit «Gott» überhaupt nichts Neues. Höchstens, dass ich das Publikum am Schluss noch abstimmen lasse. Persönlich bin ich der Überzeugung, dass eine Verfassung lebendig ist, wenn man darüber spricht und nicht, wenn sie auf irgendeinem Papier steht.

Der Terrorismus oder die Sterbehilfe sind Teil unserer Verfassungswirklichkeit. So gesehen halte ich eine Mitbestimmung überhaupt nicht für verfehlt oder für populistisch. «Gott» ist eine Diskussion über unsere Verfassung.

SRF 1, 23.11.2020, 20:15 Uhr

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