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In einer s/w-Aufnahme stehen Jugendliche auf der Strasse neben brennenden Containern und umgekippten Abfalleimern.
Legende: Szene aus den Zürcher «Opernhauskrawallen» der 1980er Jahre (12. Juni 1980). Keystone

Literatur Urs Zürchers verblüffende Wendung der 1980er-Jahre

Was wäre, wenn der Kalte Krieg zu einem Dritten Weltkrieg geführt hätte? Wenn die Russen in die Schweiz einmarschiert wären? Urs Zürcher schreibt in seinem Erstling «Der Innerschweizer» die Geschichte der 1980er-Jahre um. Ein historischer Fake in Tagebuchform, der vorgibt, wahr zu sein.

Mit seinem Erstling «Der Innerschweizer» gelingt es Urs Zürcher überzeugend, die Stimmung der 1980er-Jahre wieder aufleben zu lassen: Eine jungen Generation stellt sich dezidiert gegen die damalige politische Rückwärtsgewandtheit. Mehr Lebensraum und Autonomie ist ihr Postulat in einer Zeit, in der Wohnraum teuer saniert und für Junge und Familien mit kleinen Budgets unerschwinglich wird. Hausbesetzungen sind die Folge. Politischer Aktivismus in Kollektiv-WGs. Kopfsteinpflaster gegen Tränengas. Die Bilder des Films «Züri brännt» gehen um die Welt.

«WG-Genossen = Kommunisten»

Auch in Basel gehen die Linksautonomen auf die Strasse. Auch sie wollen mehr günstigen Lebens- und Kreativraum. Die Forderung nach einem Autonomen Jugendzentrum wird Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre immer lauter. Die Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt werden immer heftiger. Diesem Szenario übergeordnet und omnipräsent ist die Angst, dass die Ära des Kalten Krieges in eine Ära eines heissen Krieges übergehen könnte.

Urs Zürcher

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Legende: Bilger Verlag

Urs Zürcher, geb. 1963, hat in Basel Geschichte, Philosophie und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft studiert und in Zürich bei Jakob Tanner promoviert. Danach war er Lehrbeauftragter an der Universität Basel und ist seit 2006 Lehrer an der Berufsfachschule Basel. «Der Innerschweizer» ist sein erster Roman.

In diesem Spannungsfeld ist Urs Zürchers Roman «Der Innerschweizer» angesiedelt. Ein junger Mann Anfang 20, Innerschweizer, zieht nach Basel, um dort zu studieren. Er findet eine günstige Wohnmöglichkeit in einer WG, was seine Eltern nicht wirklich goutieren: «WG-Genossen gleich Kommunisten», so ihr Vorurteil. Und damit haben sie nicht ganz unrecht. Wohngemeinschaften in den 80er-Jahren waren meist politisch motiviert. So auch die Wohngemeinschaft des jungen Innerschweizers.

Scheinbare Fakten, erfunden von Urs Zürcher

Urs Zürcher beschreibt in Tagebuchform, wie sich der junge Mann und seine WG radikalisiert, militant nach links rückt. Das ist eindrücklich. Gemeinsam führen die WG-Genossen illegale Plakataktionen durch. Nehmen Teil an Grossdemonstrationen und an Hausbesetzungen.

In den Schilderungen der Begebenheiten der frühen 80er-Jahre hält sich Urs Zürcher äusserst genau an die damaligen politischen Fakten. Doch dann plötzlich ereignet sich das Undenkbare: Bei einem Anschlag der WG auf eine Anlage des Militärs kommt ein Mensch ums Leben. Ein russischer Spion! Die Folge davon: Es kommt zu einem Dritten Weltkrieg, die Russen marschieren in Basel ein.

Die Revolution frisst ihre Kinder

Was will Urs Zürcher mit dieser fiktiven Wende in der Geschichtsschreibung bezwecken? Zum einen will der Autor sicher klar machen, dass Geschichte unvorhersehbar ist. Dass Kleinstereignisse einen grossen Impakt auf den möglichen Verlauf von Geschichte haben können. Zum andern aber will uns Zürcher auch vor Augen führen, dass Revolutionen ihre Kinder fressen. Dass der Krieg Menschen in ihrem Denken und Handeln verändern kann.

Denn in Zürchers Roman beginnt die linksautonome WG im Kriegsgeschehen Geschäfte zu machen: Nach kapitalistischem Vorbild verkauft sie der russischen Besatzungsmacht Luxusgüter aus geplünderten Häusern. Ein gutes Geschäft – aber eigentlich unvereinbar mit ihrer politischen Gesinnung.

Gewichtig und leicht zugleich

Buchhinweis

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Urs Zürcher: «Der Innerschweizer». Bilger Verlag, 2014.

Nebst dieser Romananlage ist interessant, wie Urs Zürcher den Selbstfindungsprozess seines jungen Protagonisten und Tagebuchschreibers auch auf sprachlicher Ebene kenntlich macht. Zu Beginn des Romans sind die Tagebucheinträge relativ banal, werden dann aber – je mehr sich das politische Geschehen zuspitzt – abgehackter und zum sprachlichen Experiment.

Und am Ende, als der Tagebuchschreiber sozusagen zu einer literarischen Sprache gefunden hat, entschliesst er sich, das Schreiben einzustellen und seine Schreibmaschine in der Maggia im Tessin zu versenken. Doch die Hoffnung bleibt, dass die Geschichte erneut eine positive Wende nimmt. Denn wir stehen im Zeitgeschehen kurz vor der Wende, vor dem Berliner Mauerfall.

Urs Zürchers Erstling «Der Innerschweizer» ist ein gewichtiges Buch, gemessen an seinem politischen Inhalt. Und gleichzeitig ist es auch leichte Kost. Denn die WG-Beschreibungen lesen sich wie eine Sitcom und führen uns in ein Lebensgefühl «Back to the 80ties».

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