An Märchen fallen erst einmal die Gemeinsamkeiten auf: Da gibt es junge Mädchen, böse Mütter, verzauberte Frösche und tölpelhafte Jungs. Gesammelt haben diese Märchen die Brüder Grimm im Auftrag von Clemens Brentano und Achim von Arnim. Vor genau 200 Jahren sind «Grimms Märchen» erschienen.
Gutbürgerliche Volksmärchen
Die Gebrüder Grimm haben diese Geschichten allerdings nicht bei der ländlichen Bevölkerung gefunden, wie gerne kolportiert wird: Es war bei gutbürgerlichen Töchtern, die die Märchensammlung des Franzosen Charles Perrault auf dem Nachttisch liegen hatten.
Auch Perrault hat die Volksmärchen nicht erfunden, sondern gesammelt. Märchen seinen so alt wie die Menschheit, resümiert der Literaturwissenschaftler Michael Maar in seinem Essay «Hexengewisper».
Held besteht Abenteuer
Viele Märchen funktionieren nach einem ähnlichen Muster: nach der «Quest», der Heldenreise. Es ist ein Motiv, das bereits in der Steinzeit bekannt ist. Ein Held zieht aus, besteht Abenteuer und kehrt heil zurück. Seine Abenteuer erzählt er zuhause, schmückt sie aus – geboren ist das Märchen.
Das Märchen von Rotkäppchen ist eine solche «Quest». Es begegnet im dunklen Wald dem bösen Wolf und besteht diese Mutprobe. Dieses Erzählschema hat sich durchgesetzt und hält sich bis heute. Aktuelle Beispiele sind etwa «Star Wars» oder «Harry Potter».
Märchen sind unlogisch
An Märchen fallen Literaturwissenschaftler Michael Maar noch weitere Gemeinsamkeiten auf: Sie sind oft naiv und grausam, unlogisch und unglaubwürdig. Kein anderes literarische Genre trete die Alltags- und Seelenlogik dermassen mit den Füssen, schreibt Maar in seinem Essay «Hexengewisper».
Michael Maar verzichtet fast ganz auf eine psychologische Interpretation der Märchen. Stattdessen fragt er nach ihrem historischen Kontext. Natürlich kann «Rotkäppchen» als Metapher des Erwachsenwerdens verstanden werden – gerne wird das rote Käppchen als Zeichen der Menstruation gedeutet und der Wolf als Sinnbild der männlichen Sexualität, die lockt.
Maar findet in «Rotkäppchen» jedoch auch Spuren, die für einen Initiationsritus aus der Vorzeit sprechen: Junge Menschen mussten sich allein in einen Wald begeben und dort Mutproben bestehen, um erfolgreich in eine Gemeinschaft aufgenommen zu werden.
Tabus der Menschheit
Solche historische Einbettungen sind es, die Maars Lektüre ausmachen. Märchen transportierten Tabus der Menschheitsgeschichte, schreibt er. Dies aber auf so verklausulierte Weise, dass sie erträglich werden
Ein solches Tabu ist Kannibalismus an Kindern vor dem Hintergrund von Hungersnöten. Als Beispiel führt er das Märchen «Hänsel und Gretel» an. Maar verortet es im Dreissigjährigen Krieg.
Mutter ist die Hexe
Die Hexe, die den Hänsel essen wolle, sei in Wirklichkeit die Mutter – also genau die Person, die die Kinder auf Nimmerwiedersehen in den Wald schicke, denn «ansonsten müssten wir Hungers sterben», wie es zu Anfang heisst. Im Wald will die Mutter dann in Gestalt der Hexe den Hänsel fressen.
Als Beweis für seine Theorie führt Maar an, dass auch die Mutter plötzlich tot sei, als sich die Kinder befreit und die Hexe im Feuer verbrannt haben. Es sind diese feinen Details, die Maars Theorien glaubhaft untermauern.
Happy End als Versprechen
Märchen dienten dazu, dass solche Menschheitserfahrungen nicht vergessen gingen. Erträglich würden diese Botschaften durch das Happy End. Das sei der Pakt, den die Zuhörer mit dem Märchenerzähler eingehen, so Maar.
Nach der Lektüre von Michael Maars «Hexengewisper» hört man Märchen mit anderen Ohren zu: kritischer und bewusster. Von ihrer Faszination büssen diese Geschichten dadurch nichts ein - auch nicht nach 200 Jahren.