Kate Tempest auf der Bühne: Das ist eine junge Frau in Jeans und schlackerndem T-Shirt, ungeschminkt, burschikos, kraftvoll, mit einer wilden Mähne aus blonden Korkenzieherlocken um den Kopf. Ohne Maske und Fassade sein, das ist Teil von Kate Tempests «message». Es geht ihr um das Authentische. «Surface Stuff / is not enough» («Oberflächliches Zeugs /ist nicht genug») heisst es in einem ihrer Songs.
Sie wird die «momentan bedeutendste Poetin Englands» genannt. Mit 27 hatte sie den renommierten Lyrikpreis Ted Hughes Award erhalten, der noch nie zuvor an jemanden unter 40 gegangen war. Nachdem England, Amerika und Australien ihr längst den roten Teppich ausgerollt haben, ist die 29-jährige Rapperin, Spoken Word Artistin und Lyrikerin Kate Tempest nun auch im deutschsprachigen Raum angekommen.
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Anlass für eine Lesetour im Mai war ihr erster Roman: In «Worauf du dich verlassen kannst» greift sie die Geschichten von Songs ihres preisgekrönten Debutalbums «Everybody Down» auf und entwickelt sie weiter.
Das nicht korrumpierte Ich
Das Buch spielt in Südlondon, Kate Tempests Heimatboden und wie sie selbst sagt, «a magical place». Da ist Becky, eine 26jährige Tänzerin, die mit Pete zusammen ist. Ihre eigentliche Liebesgeschichte erlebt sie aber mit Petes Schwester Harry, einer jungen Drogendealerin.
Wie Harry fragt sich Becky immer wieder, wer sie wirklich ist: «Die perfekte Tänzerin, die sich niemals beklagt? Das Mädchen aus Südlondon, das zu Hause kokst? Die folgsame Nichte, die im Café ihres Onkels den Abwasch macht? Die erotische Masseuse mit Lippenstift und High Heels, die durch die Stadt fährt, um Geld zu verdienen?»
Solidarität mit den Verlierern
Harte Lebensgeschichten. Solidarität mit den Verlierern der sich immer weiter kapitalisierenden Metropole. Nicht zuletzt Schmerz über den Verlust von Musikkneipen und Probebühnen. An diese Orte der Gemeinschaft, konnte Tempest selbst in ganz jungen Jahren noch in die Welt der Musik hineinwachsen.
Längst aber ist Kate Tempest viel mehr als das ungebärdige Hip-Hop-Kind aus Südlondon, das 16-jährig auf Open Mic Nights auftrat und sich in dieser vorwiegend schwarzen, männerdominierten Musikszene behauptete.
In ihrem Künstlernamen «Tempest» klingt Shakespeare an. Tatsächlich schöpft Tempest aus sehr alten Quellen wie dem englischen Barden oder der griechischen Mythologie. Sie erzählt von Figuren wie sich selbst und ihre Südlondoner Umgebung: Working Class, Überlebenskünstler und Scheiternde.
Eine Mahnerin vor dem oberflächlichen Leben
Von diesen «Menschen, die ihren müden gebrochenen Herzen einen netten Abend abtrotzen» handelt auch der Roman. Ihre Heldinnen Harry und Becky haben die Nase voll von jenen Kompromissen des Überlebens, mit denen sie das eigene Leben zerstören.
Der Roman enthält starke Portraits und Passagen – ist in seiner jetzigen Form aber auch noch als Spielfläche einer Debütantin zu erkennen, mit Längen und Redundanzen.
Eindrucksvoll aber ist auch hier die klug verdichtete Sprache, die ihre Gedanken transportiert: Dann wirkt sie manchmal wie eine griechische Mahnerin, eine uralte Kassandra, die von weit her gekommen ist, um zu warnen vor einem Leben, das nie unter die Oberflächen geht.
Sendung: Kultur kompakt, SRF 2 Kultur, 8. Juni 2016, 8.20 Uhr